
Kim Il-Sung war in seinem Leben nie auf der Toilette. Das ist die Wahrheit. In Nordkorea steht das in Schulbüchern, jedes Kind weiß es. Einige Zweiflers behaupten vielleicht etwas anderes – aber es gibt kein Foto, keinen Zeugenbericht, der die Perfektion und Reinheit des Körpers des Staatsgründers widerlegen könnte.
Sie mögen einen Einstieg mit Nordkorea überzogen finden: aber wenn der Staat einmal mit der Anmaßung über die Wahrheit beginnt, gibt es letztlich kein Halten mehr. Denn dass Corona aus dem Labor in Wuhan kommt, ist ähnlich beweisbar, wie die magische Kontinenz des Kim Il-Sung widerlegbar ist. Dass die Covid-Impfstoffe anders als behauptet nicht vollkommen nebenwirkungsfrei sind, hätte man sich gleichwohl denken können – es war in Deutschland dennoch eine Falschinformation.
Im vorläufigen Koalitionsvertrag steht der Satz: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Ein Satz, der zunächst schon juristisch falsch ist – denn natürlich ist es legal und absolut von der Meinungsfreiheit gedeckt, zu behaupten, dass die Erde eine Scheibe sei. Doch die neue Koalition plant ein Maßnahmenpaket gegen „Fake News“ – „staatferne“ Medienanstalten sollen gegen Medien vorgehen, „Desinformation“ bekämpft werden. Der Staat wird zum Richter über richtig und falsch, die Lüge soll verboten werden.
Es ist eine fundamentale Veränderung im Verständnis von Wahrheit – und ein Rückfall hinter Jahrhunderte Aufklärung und Erkenntnistheorie. Über Jahre hat die neue Linke zunächst mit dem Klimawandel, dann während Corona, die Vorstellung eingeprügelt, Wahrheit wäre zweifelsfrei festzulegen, im Konsens feststellbar und schließlich politisch umsetzbar. Das Gerede von „Desinformation“ war Ausdruck davon. Auch Merz unterwirft sich mit diesen Formulierungen dieser Vorstellung. Damit ist er statt bei Popper nun eher bei Lenin. Ersterer sah in der Anmaßung des Staates, über die Wahrheit entscheiden zu können, die Wurzel des Totalitarismus.
Denn Wahrheit entsteht nicht durch Konsens, sondern nur im Konflikt. Sie ist kein demokratischer Mehrheitsbeschluss. Genau deshalb funktioniert auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht. Konsensuale Wahrheitsfindung endet in der Darstellung einer Wahrheit, wie sie die Menschen gerne hätten, nicht wie sie ist. Wahrheit ist immer radikal und niemals einsichtig – in der Wissenschaft genau wie im Journalismus finden nur Querköpfe, Grenzgänger und Außenseiter Wahrheit. Der Verrückte ist ihr näher als der Bürokrat.
Ein besonders drastisches Beispiel für die Folgen dieses Wahrheitsanspruchs ist der Fall Lyssenko. Der sowjetische Agrarwissenschaftler erklärte die Mendelschen Vererbungsregeln für bürgerliche Ideologie, erfand seine eigene Theorie – und erklärte, Pflanzen würden durch Umwelteinflüsse ihr Erbgut verändern. Die Theorie war falsch, aber da Stalin ohnehin schon die Wahrheit zur absoluten Staatssache gemacht hatte, wurde auch diese Theorie unkritisierbare Staatsdoktrin.
Lyssenko ließ sich viel besser mit dem marxistischen Weltbild vereinbaren als Darwin – so könnte man schließlich selbst Pflanzen erziehen und auch den Acker und das Feld zu Genossen machen. Lyssenkos Theorie war eine angenehme Wahrheit, wie man sie gerne gehabt hätte – nur stimmte sie nicht. Über Jahrzehnte fand die Theorie frei von Kritik und Zweifeln Anwendung, selbst unter Chruschtschow blieb Lyssenko Regierungsberater und Mao setzte bei seinem großen Sprung nach vorn noch Anfang der 60er Jahre auf Lyssenkos Methoden. Nichts davon funktionierte. Das Ergebnis: Missernten, Hungersnöte, Millionen Tote. Und eine Wahrheit, die nie existierte – außer auf dem Papier. Später stellte sich heraus, dass Lyssenko Daten über seine Experimente schlichtweg gefälscht hatte.
Wenn erst einmal eine Behörde entscheidet, was wahr ist, sind Gegenstimmen automatisch verdächtig. Je weniger es davon gibt, desto verrückter wird der Konsens und so verstärkt sich die Spirale. Umso passender ist es, dass die neue Regierung gleichzeitig noch das Informationsfreiheitsgesetz abschaffen und die SPD gar verlässliche Verlage finanziell stützen will.
Dass ausgerechnet Merz, der mit brachial falschen Wahlversprechen gewählt wurde, ein solches Programm der staatlichen Wahrheitsfindung forciert, wundert dann auch nicht mehr. Bekanntlich fürchtet immer nur die Lüge die Wahrheit – nicht andersherum.