
Der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago beschreibt ganz realistisch das Unrealistische: Entlang der Grenze zu Frankreich bricht die spanische Halbinsel ab und treibt auf den Atlantik hinaus. Politiker, Journalisten, Wissenschaftler von Madrid bis Brüssel sind gefordert. Auf dem „steinernen Floß“ entwickelt sich die verwirrende Wirklichkeit einer Europa umspannenden Bürokratie, schon 1986 vorwegbeschrieben und mittlerweile Realität. Unmöglich? Das Wegschwimmen Spaniens schon, die Reaktionen darauf? Sehr gut möglich. „Alles Zukünftige ist Erdichtung“, diesen Satz des zwischen Realität und Wirklichkeit changierenden Autors Alejo Carpentier setzt er als Motto an den Anfang seines Romans. Tatsächlich werden wir täglich von immer neuem Zukünftigen aus Politik und Technik überrollt. Aber was geschieht wirklich mit diesen Innovationen, Novitäten und anderem Neuen?
Man kann sich die neue Wirklichkeit auf unterschiedlichen Wegen aneignen: Seminare, Ausprobieren, Lernen, Lesen. Was bringt die KI? Sie verändert alles, so viel ist klar – wie ein Abbrechen der spanischen Landscholle vom Festland. Die EU, mit der Weisheit einer Bürokratie, die Kafkas Schloß perfektioniert hat, reguliert etwas, was sie nicht versteht, in der EU kaum entwickelt wird und in Deutschland mangels Stromversorgung nur bedingt angewendet werden kann.
Politiker versprechen die Zukunft, obwohl Intelligenz (mit oder ohne künstlich) derzeit nicht in der agierenden Politik vermutet werden kann. Wenn das Geld mal wieder nicht reicht, weil es verschludert und verschleudert wurde, wird als Lösung KI angeboten. Und wir – die Subjekte von Regulierung, Modernisierung und KI? Wie lernen wir KI?
Zwei aktuelle Spannungsromane schaffen neue Genres: den KI-Thriller und KI-Krimi. Die Grenzen zwischen der künstlich belebten Welt und der bisherigen Wirklichkeit verschwimmen. Im Roman von Raymond Unger läßt sich der Berliner Professor für neue Medien, Nils Larsen ein virtuelles Bild einer attraktiven Frau erstellen. Wenig später trifft er sie. Larsen ist typisches Produkt der neuen, woken Akademikerwelt; und er trifft auf den C.G.-Jung-Psychoanalytiker Johannes Baumkamp, der ebenfalls in der virtuellen Kunstwelt des mondänen Subventions-Berlins lebt und gegen Ende in seiner Wohnung erstaunliche Einblicke in die künstliche Welt der Migranten macht. Es ist ein Panoptikum von Zeitgeist-Figuren. Künstlichkeit ist nicht nur ein Produkt der KI, sondern einer der Wirklichkeit längst enthobenen woken Welt. Die dann durch KI ordentlich durcheinandergewirbelt wird.
Technik ist nicht autonom; sie wird belebt durch die Art ihrer Inanspruchnahme. Und künstliche Intelligenz wird in diesem Roman von einer Politik eingesetzt, die Lenkung, Bevormundung und Manipulation schon mit herkömmlichen Mitteln in der Corona-Welt geübt hat; der neue Trans-Kanzler ist aus Fleisch und Blut und läßt letzteres bedenkenlos fließen. Am Ende kollidiert die woke Welt Berlins nicht nur mit der neuen Realität der KI, sondern auch mit den alten Verteidigungsplänen aus der sehr realen Zeit des Kalten Kriegs: Hier gilt es, das Fulda Gap zu verteidigen, die gedachte geographische Einfallspforte der Russen nach Westeuropa.
Technik schafft sich aber auch ihren eigenen Roman. Das Telefon klingelt. Vergebens. Der Angerufene ist nicht Erreichbar. Ok, das war der Plot der Literatur in den vergangenen 100 Jahren. Im Zeitalter von Handy und mobiler Kommunikation – nur noch historisch bedeutsam, kaum mehr nachvollziehbar. Wir sind alle erreichbar. Immer. Ständig. Und wenn KI ins Geschehen tritt? Wer ist dann der Täter? Wer das Opfer? Eine KI-Entwicklerin wird grausam ermordet. Aber wo ist der Täter zu suchen? Möglicherweise führt die Spur des Geldes zum Täter, oder der Liebhaber war’s.
Der Ermittler Finn Dever macht sich auf die Suche und landet im Irrgarten alter und neuer Möglichkeiten, im Zaubergarten alter und neuer Motive. Bastian Martschink hat einen ordentlich blutrünstigen Krimi geschrieben. Das Telefon klingelt nicht mehr. Die KI ist aber zu schlau, als dass sie sich zu erkennen gäbe wie der klassische Mörder per Fingerabdruck oder nachverfolgbarer Telefonanrufe.
KI wird sinnlich erfahrbar in spannend erzählten Mordfällen. Unger und Martschink wählen unterschiedliche Blickwinkel, Herangehensweisen – und beide erklären KI besser als irgendein aufgeschwemmter Zukunftsforscher mit Blähwörtern. „Alles zukünftige ist Erdichtung“. Leider wird die Dichtung Wirklichkeit, auch wenn Spanien weiter an Frankreich dranhängt.
Raymond Unger, KAI. Roman. Europa Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 432 Seiten, 25,00 € und Bastian Martschinek, Finn Dever. Letzter Blick. Golkonda, Klappenbroschur, 384 Seiten, 18,00 €.