
Mit der abermaligen Senkung des Einlagezinses – diesmal wieder um 25 Basispunkte auf nunmehr drei Prozent – zeigt sich die EZB kaum noch als souveräne Stabilitätshüterin, sondern vielmehr als Getriebene. Denn die Inflationsdaten sprachen nicht für den dritte Zinsschritt abwärts in diesem Jahr – im Gegenteil. Im November kletterte die Inflation in der Eurozone auf 2,4 Prozent zum Vorjahresmonat; im Oktober hatte sie noch bei zwei Prozent gelegen.
Auch in Deutschland zog die Geldentwertung wieder an – von zwei Prozent im Oktober im Vorjahresvergleich auf 2,2 Prozent im November. Nach Lehrbuch würde das bedeuten: die Zentralbank, deren offizielles Mandat in der Erhaltung der Geldwertstabilität besteht, müsste zwingend eine Pause einlegen. Allerdings kümmert sich die EZB unter Christine Lagarde immer weniger um diese Kernaufgabe. Schon die Zinsanhebung 2022 setzte viel zu spät ein, um den Kaufkraftverfall schnell zu stoppen. Lange meinten die EZB-Direktoren in Frankfurt, die Inflation würde schon von selbst wieder zurückgehen. Auch bei der Zinssenkung haben sie nicht die Euro-Stabilität im Blick, sondern zwei andere Felder. Erstens soll die Verbilligung des Geldes die Eurozone vor einem noch tieferen wirtschaftlichen Abrutschen bewahren. In Deutschland, der größten Volkswirtschaft des Kontinents, dürfte die Wirtschaft 2024 um 0,2 Prozent schrumpfen. Die trübe Stimmung im Zentrum zieht das gesamte Währungsgebiet nach unten. Dazu kommen die Aussichten auf wesentlich härtere Handelskonditionen mit den USA unter Donald Trump, konkret: eine heftige Erhöhung von Zöllen. In einem Handelskrieg mit den Vereinigten Staaten befindet sich die Eurozone in einer Position des Schwächeren. Auf amerikanisches Flüssiggas beispielsweise kann Deutschland in der aktuellen weltpolitischen Lage und angesichts der eigenen Energiepolitik nicht verzichten. Mit Gegenzöllen auf dieses Gut würde sich die Bundesrepublik massiv selbst schaden. Auch für hochspezialisierte Chips, wie Nvidia sie herstellt, gibt es in Europa keinen vergleichbaren Hersteller. Vor allem im ohnehin angeschlagene Exportland Deutschland würden Trumps angekündigte Zollerhöhungen die Wirtschaft weiter schrumpfen lassen. Die Zinssenkung der EZB muss deshalb als Versuch verstanden werden, die Auswirkung neuer Handelsbarrieren wenigstens zu mildern. Ein niedrigerer Außenwert des Euro hilft generell dem Export aus der Eurozone.
Zur gleichen Zeit, als am Donnerstag die Zinsentscheidung in Frankfurt fiel, eröffnete der gewählte Präsident Donald Trump die Börse in New York, und verkündete dort sein handelspolitisches Credo: er sprach eine Einladung „alle Hersteller da draußen“ aus, in die USA zu kommen, um gleich vor Ort zu produzieren: „Denn wir haben das, was alle wollen: Öl und Gas“.
Am Donnerstag veröffentlichte die EZB auch ihre Wirtschaftsprognose für den Euro-Raum. Die Zahlen sehen alles andere als rosig aus. Die Fachleute rechnen nur mit einem Mini-Wachstum von 0,7 Prozent für 2024, mit 1,1Prozent für 2025 und 1,4 Prozent für 2026 bei einer Inflation um die zwei Prozent. Und das allerdings unter der Annahme, dass die US-Zölle nicht zu sehr ins Kontor schlagen.
Der zweite Grund für die abermalige Zinssenkung der EZB heißt: Frankreich. Dort wächst sich gerade die Schulden- zur Staatskrise aus. Ex-Premier Michel Barnier stürzte über seinen Versuch, den Etat mit einer Rosskur wieder halbwegs ins Lot zu bringen – durch die Streichung von 60 Milliarden Euro. Die Reaktion im Parlament und außerhalb zeigt: das lässt sich nicht durchsetzen. Francois Bayrou, vierter Regierungschef Macrons seit Januar, soll jetzt sein Glück versuchen. Ihm bleibt angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament nur die Möglichkeit, allenfalls sachte hier und da zu streichen. Aber ganze Ausgabenblöcke abtragen, dafür gibt es ebensowenig Chancen wie auf Steuererhöhungen, die das Wachstum noch weiter nach unten drücken würden. Die Schulden- und Zinslast dürfte also auch unter der neuen Wackel-Regierung weiter steigen. Das Einzige, was dem Land unter diesen Umständen noch etwas hilft, ist die Reduzierung des Zinses. Allerdings besitzt die EZB jetzt kaum noch Spielraum nach unten. Denn die muss den Anlegern auch etwas bieten, damit sie überhaupt in Euro-Staatspapiere investieren. An dieser Stelle dämmert gerade das nächste große Problem der Gemeinschaftswährung herauf.