Diesseits von „Krieg und Frieden“

vor 5 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Ein seltsamer Widerspruch kennzeichnet das Weltbild unserer Gegenwart. Auf der einen Seite werden die größten Katastrophen beschworen, und auf der anderen Seite gibt es die sonnigsten Erwartungen für eine Lösung. Einerseits soll die Welt kurz vor dem Kollaps stehen, andererseits soll eine große Rettung zum Greifen nahe sein. So herrscht eine doppelte Maßlosigkeit. Auf der einen Seite wird bei den verschiedensten Ereignissen eine Welt beschworen, die „aus den Fugen“ geraten ist, die „in Aufruhr ist“ oder die „in Flammen“ steht. Im gleichen Atemzug wird auf der anderen Seite behauptet, dass man die „Ursachen“ dieses globalen Notstands kennt und sie beseitigen kann, wenn man sie nur ordentlich „bekämpft“.

Es ist eine Kombination von Hysterie und Hybris. Die unerbittlich nahende „Klimakrise“ und die in Aussicht gestellte „große Transformation“ ist dafür ein Beispiel. Beides soll in der Hand der Menschheit liegen. So wird die Welt in einen heillosen Extremismus von „Gut oder Böse“ getrieben. Sie wird vor eine absolute Wahl gestellt: Wer nicht das Gute wählt, kann nur Handlanger des Bösen sein. Durch eine solche Wahl wird die Welt eng gemacht. Die Aufgabe unserer Zeit kann also nicht einfach darin bestehen, „Gut“ und „Böse“ nur anders zuzuordnen, sondern einen Modus diesseits von Gut und Böse zu finden. Ein Modus, der eine Koexistenz der Gegensätze ermöglicht, statt ihre „Überwindung“ erzwingen zu müssen.

Das gilt auch für die internationalen Beziehungen. Auch hier gibt es heute den oben beschriebenen Widerspruch zwischen höchsten Ängsten und höchsten Erwartungen. Auf der einen Seite ist von einem drohenden großen Krieg die Rede. Die Weltlage wird in die Nähe der Weltkriege des vorigen Jahrhunderts gerückt. Und zugleich herrschen maximale Erwartungen an die politische, wirtschaftliche und kulturelle Neugestaltung der Welt. Ein Frieden, so ist der Anspruch, muss unbedingt mit einem umfassenden „regime change“ verbunden sein – mit einem weltumspannenden Sieg der „Demokratie“ über die „Autokratie“. In diesem Szenario ist dann nur ein „Siegfrieden“ erstrebenswert. Wer hingegen die tieferen Gründe für die Gegensätze dieser Welt sieht, wer ihre Widrigkeiten und Knappheiten ernst nimmt, wird eher bereit sein, diese Gegensätze zu akzeptieren und an einem mäßigenden Modus zu arbeiten, die eine Koexistenz der Beteiligten ermöglicht – an einer Ordnung diesseits von „Krieg und Frieden“.

Der Prüfstein für diese Ordnung sind die Krisenherde. In einer multipolaren Welt gibt es nicht nur den einen Brennpunkt, der alle Probleme in sich vereinigt, sondern es gibt mehrere. Deshalb sollen hier zwei akute Krisenherde in eine Zusammenschau gebracht werden, um ihre Unterschiede und Parallelen verstehen zu können. Es geht um die Ukraine-Krise und die Palästina-Krise.

Zwei Spannungsregionen und zwei Versuche einer Koexistenz – Es gibt eine bemerkenswerte Parallele zwischen dem Schauplatz Ukraine und dem Schauplatz Palästina: Auf beiden Plätzen gab es schon Versuche der Koexistenz – und das ist noch gar nicht so lange her. Die Ukraine erreichte ihre Unabhängigkeit in einem Konsens. Anfang der 1990er Jahre stimmte in der Ukraine eine überwältigende Mehrheit für die Unabhängigkeit des Landes. Dabei gab es eine Mehrheit sowohl im russisch orientierten Teil als auch im europäisch orientierten Teil. Es herrschte die Erwartung, dass die beiden Bausteine der Ukraine bei aller Unterschiedlichkeit doch koexistieren konnten. Und auch die Beziehung zu Russland war unstrittig, wie umgekehrt auch Russland der Unabhängigkeit der Ukraine zustimmte, und das nicht nur gezwungenermaßen, sondern aus eigenem Entschluss.

Und Palästina? Mitte der 1990er Jahre schlossen Israel und die Palästinenser das Osloer Friedensabkommen – mit internationaler Unterstützung, einschließlich der USA – und es entstand das, was heute als „palästinensische Autonomiegebiete“ bezeichnet wird. Israel übergab dort die Verwaltung an palästinensische Autonomiebehörden. Aus dem Gazastreifen zog sich Israel bis 2005 zurück und räumte dort auch die jüdischen Siedlungen. 2006 gewann die radikalislamische Hamas dort die Wahlen, während die gemäßigtere Fatah im Westjordanland regierte. Sowohl auf dem ukrainischen Schauplatz als auch auf dem palästinensischen Schauplatz gab es gewiss schon früh extreme Kräfte, deren Ziel ein Sieg über die Gegenseite war, aber man kann doch insgesamt in beiden Fällen von ernsthaften und redlichen Versuchen einer Koexistenz sprechen.

Das Zerbrechen der beiden Koexistenz-Versuche – Die beiden Versuche der Koexistenz sind im weiteren Verlauf der 2000er und 2010er Jahre zerbrochen. Über dies Zerbrechen sollte man sorgfältig nachdenken. Dabei ist es schwierig und auch sinnlos, nach einer „Schuld“ und einem „Schuldigen“ zu suchen – so als ob hier irgendein „Kriegswillen“ und gar eine „Tötungslust“ am Werk ist. Gegenwärtig ist die Neigung groß, nur auf die militärischen Interventionen zu schauen, und das Leid und die Zerstörung denen vorzuwerfen, die angeblich „angefangen“ haben. So erweckt die Formel „Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine“ den Eindruck, hier wäre ein Krieg gleichsam aus heiterem Himmel (und aus purer „imperialistischer“ und „autokratischer“ Willkür) vom Zaum gebrochen worden. So wurde auch die Öffentlichkeit westlicher Länder daran gewöhnt, nicht nach tieferen Triebkräften der Entwicklung zu fragen. Man prüft gar nicht, ob bei diesen Triebkräften eventuell auch westliche Erwartungen und Ansprüche in der Ukraine eine Rolle spielen. Ansprüche, die nur bei einer umfassenden Niederlage und dauerhaften Schwächung Russlands durchsetzbar sind. So wird eine Lösung durch Koexistenz undenkbar.

Und nun kommt der zweite Schauplatz Palästina ins Spiel. Auch hier ist ein Zerbrechen des Koexistenz-Versuchs und auch ein Verlust jeglicher Koexistenz-Perspektive zu beobachten. Wir sehen, wie das Feindbild „Netanjahus Israel“ und das Feindbild „Trumps USA“ weltweit Verbreitung findet. Das Verfahren, mit dem man Russland auf dem Schauplatz Ukraine an den Pranger gestellt hat, wird nun auf Israel und die USA angewendet. Man schaut nur auf den Einsatz des israelischen Militärs und auf das Leid der Menschen in Gaza. Oder auf den US-Luftangriff auf das iranische Atomprogramm. Die Tatsache, dass die Vorleistungen, die die Israelis für die Koexistenz erbracht hatten, auf einmal nichts mehr wert waren, wird ausgeblendet. Über viele Jahre mussten die Israelis zusehen, wie auf der anderen Seite immer größere Ansprüche heranwuchsen, die mit der Existenz Israels unvereinbar waren. Aber das zählt jetzt nicht mehr. Die Wirkmacht der Bilder des israelischen „Angriffskriegs“ überdeckte die tieferen Probleme. So ist die Verteidigung Israels und die Verteidigung der Präsenz des Westens im Nahen Osten in die gleiche moralische Falle geraten, die am Schauplatz Ukraine gegen Russland eingesetzt wurde. Dort wurde die Tatsache überdeckt, dass die „neue Ukraine“, die aus der sogenannten Maidan-Revolution hervorgegangen war, längst dabei war, alles Russische zu diskriminieren und zu vertreiben.

Existenzvernichtung: die Wirtschafts- und Kultur-Boykotte – Es gibt ein untrügliches Indiz dafür, dass bei den Kräften, die die Versuche der Koexistenz gesprengt haben, sehr weitgehende und tief ansetzende Feindschaften am Werk sind. Das sind die weltweiten Aufrufe und Beschlüsse, bestimmte Länder vom weltweiten Wirtschats- und Handelsverkehr auszuschließen. Und die Aufrufe und Beschlüsse, Wissenschaftler, Künstler oder Sportler von Universitätsveranstaltungen, Kongressen, Festivals, Ausstellungen und Wettkämpfen auszuschließen. Im März 2022 erklärte der damalige „liberale“ deutsche Finanzminister öffentlich, es müsse darum gehen, das russische Wirtschafts- und Finanzsystem „maximal zu schädigen“. Gemeint war der Versuch, mit einer Blockade russischer Öl- und Gasexporte und einer Beschlagnahme russischer Auslandsvermögen das Land in die Knie zu zwingen. Die tägliche Zivilisationsleistung in einem so großen Land sollte getroffen werden, und auch die Menschen sollten wie Aussätzige behandelt werden, die man aus der Öffentlichkeit entfernt. Und nun wird haargenau das gleiche „tiefe“ Instrumentarium, das auf die Existenz der Betroffenen zielt, gegen Israel eingesetzt. Es ist ein symbolischer Vernichtungsakt. Wie wichtig waren dagegen in früheren Zeiten die ersten gemeinsamen Sportwettkämpfe als vorsichtige Versuche von Koexistenz.

Über das Völkerrecht – In den beiden Krisen, die in diesem Text erörtert werden, ist sehr häufig das Völkerrecht bemüht worden, um eine Seite gewissermaßen außerhalb der Völkergemeinschaft zu stellen. Fast automatisch wurde der „russische Angriffskrieg“ mit dem Adjektiv „völkerrechtswidrig“ versehen. Dabei wurde der Eindruck erweckt, dass das Völkerrecht alles zur Verfügung stellt, was zu einem allgemeinen, dauerhaften Frieden notwendig ist. Dass es klare Grenzen setzt, was als Übergriff und Rechtsverletzung zu gelten hat und was nicht. Auf dieser Grundlage, so wurde suggeriert, könne das „imperialistische“ Russland und der „Autokrat Putin“ als Hauptfeind für den Weltfrieden identifiziert werden. Dabei wurde insbesondere der Eindruck erweckt, es wäre eindeutig geklärt, was den Tatbestand „Angriff“ ausmacht. Ist derjenige, der als erster die Grenze zu einem anderen Staat überschreitet oder der den ersten Schuss abgibt, eindeutig der Angreifer?

Doch dann kam der Präventivschlag Israels und der USA gegen den Iran, und die Argumentation mit dem Völkerrecht geriet ins Schlingern. Auf einmal war das Völkerrecht nicht mehr so eindeutig, wie es noch schien, als es gegen Russland ging. Ein Artikel von Alexander Haneke in der FAZ vom 24. Juni 2025 („Israels letzte Gelegenheit?“) trägt die Unter-Überschrift „Die Angriffe auf Irans Atomprogramm bringen das Völkerrecht in Bewegung“. Der Autor beschreibt eine Situation, in der es nur eine kurze Gelegenheit („last window of opportunity“) gibt, um zu verhindern, dass ein Land vollendete Tatsachen schafft und zum Beispiel eine gefährliche Überlegenheit herstellt. Dies Argument haben israelische und amerikanische Politiker und Staatsrechtler vorgetragen. Der FAZ-Journalist schreibt aber noch einen viel weitergehenden Satz:

„Für das Völkerrecht ist es indes auch von Bedeutung, wie sich die einzelnen Staaten zu den israelisch-amerikanischen Luftschlägen positionieren, da die Staatenpraxis ein zentrales Kriterium bei der Auslegung völkerrechtlicher Pflichten ist.“

Das würde bedeuten, dass das Völkerrecht prinzipiell nicht als feststehende, eindeutige, höchste Instanz gelten kann. Es wird durch „die Staatenpraxis“ beeinflusst. Das erinnert an den Gedanken des bedeutenden Rechtsgelehrten Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach das Recht von Voraussetzungen lebt, die es selber nicht generieren kann. Die Konsequenz aus dem Präventivschlag gegen den Iran ist also nicht, dass nun auch Israel und die USA als Völkerrechts-Brecher verfolgt werden müssen, sondern dass sich die russische Regierung bei ihrer militärischen Intervention in der Ukraine auch auf das Argument des „last window of opportunity“ berufen kann. Die Kiewer Regierung war ja dabei, mit militärischer Gewalt die sogenannten abtrünnigen Provinzen im Osten zu unterwerfen und bei der ethnisch-kulturellen Vertreibung alles Russischen aus der Ukraine vollendete Tatsachen zu schaffen.

Welche Ansprüche sind koexistenzfähig und welche sind es nicht? – Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt angelangt. Wenn das Recht aus sich heraus keinen eindeutigen Maßstab liefert, muss dieser Maßstab staatspolitisch gefunden werden. Wenn kein ewiges Prinzip zur Verfügung steht, muss geschaut werden, welche Ansprüche zwischen den Staaten im Raum stehen. Es muss unterschieden werden zwischen Ansprüchen, die mit einer Koexistenz vereinbar sind, und Ansprüchen, die übergriffig sind. Hier müsste man auch klären, welche Ansprüche dazu geführt haben, dass die früheren Versuche der Koexistenz auf dem Schauplatz „Ukraine“ und auf dem Schauplatz „Palästina“ gescheitert sind. Unter „Ansprüchen“ sollte man dabei nicht nur ausdrücklich formulierte Ziele und Forderungen in Betracht ziehen, sondern auch stille Erwartungen und Vorstellungen, die sich bei den Menschen gebildet haben und deren Konsequenzen sie gar nicht voll überblicken. Man sollte auch bedenken, dass Menschen, die in großer Enge und Not leben, trotzdem sehr wohl weitreichende Gedanken haben können. Dabei darf man aber nicht aus den Augen verlieren, dass es nicht einfach um Ansprüche und Beziehungen zwischen Menschen geht, sondern um Beziehungen zwischen Staaten. Die Positionen und Grenzen, auf deren Grundlage sich ein Staatswesen konstituiert, können koexistenzfähig sein. Sie können aber auch Koexistenz verhindern, wenn übergriffige Ansprüche in die Grundlagen eines Staatswesens gleichsam „eingebaut“ sind.

Schauplatz Ukraine: Die Einseitigkeit der „Maidan-Revolution“ ist zum allgemeinen Gesetz geworden – Es ist üblich geworden, vom Freiheitskampf „der Ukraine“ zu sprechen. als wäre sie noch dasselbe Land wie in der Anfangszeit ihrer Unabhängigkeit. Doch bestand die damalige Ukraine aus zwei tragenden Pfeilern im Inneren und zwei Richtungen in ihren Außenbeziehungen. Hingegen ist die heutige Ukraine, die aus der sogenannten Maidan-Revolution hervorging, nur noch eine halbe, einseitige Ukraine, die sich von ihren östlich-russischen Elementen und Beziehungen entfremdet hat und ihnen gegenüber auf Konfrontationskurs ist. Wie tief diese Einseitigkeit inzwischen die Gesellschaft prägt, ist sicher schwer zu beurteilen, aber es ist schwer vorstellbar, dass das Land in nächster Zeit zur Zweiseitigkeit der Anfangszeit zurückfinden kann. Die Opfer der Konfrontation haben tiefe Spuren hinterlassen. Es wäre schon etwas gewonnen, wenn ein Status quo – mit einer Grenzziehung, die dem westlich-europäischen Element und dem russischen Element Raum gibt – erreicht werden könnte.

Schauplatz Palästina: Ein neuer Staat würde auf eine große Grenzrevision hinauslaufen – Es ist in diesen Tagen viel von einem „Staat Palästina“ oder einem „Palästinenser-Staat“ die Rede. Auch von einer „Zwei-Staaten-Lösung“ mit Israel. Eine beträchtliche Zahl von Staaten, darunter auch westliche Staaten, hat die palästinensischen Autonomiegebiete als Staat anerkannt. Das ist als Hilfsbotschaft angesichts der Not im Gazastreifen vielleicht gut gemeint, aber es ist staatspolitisch sehr fragwürdig. Denn es ist überhaupt nicht geklärt, in welchen Grenzen und auf welcher Lebensgrundlage ein solcher Staat bestehen soll. Dabei ist das Staatsprojekt „Palästina“ ein ausgesprochen expansives Projekt: Bisher wurden alle Zugeständnisse, die von Seiten Israels den Palästinensern gemacht werden (wie die Selbstverwaltung) nur als Zwischenschritte zu einem großen Palästina angesehen. Die Bezeichnung „Palästina“, die der neue Staat als Namen führen soll, kann sehr weitgehende Gebietsansprüche begründen. Im Google-Lexikon ist zu lesen:

„Die historische Region Palästina liegt an der südöstlichen Küste des Mittelmeeres. Sie bezeichnet ein Gebiet, auf dem heute der Staat Israel, der Gazastreifen, das Westjordanland, Teile Syriens, des Libanons und Jordaniens (das Ostjordanland) befinden.“

Die Bezeichnung „Palästina“ und „Palästinenser“ können also eine Projektionsfläche bilden, um eine umfassende Neuordnung des Nahen Ostens zu legitimieren. Es ist deshalb verständlich, dass nicht nur Israel, sondern auch andere Staaten der Region dagegen sind, dass eine palästinensische Staatsbildung zur großen Lösung aller Probleme erklärt wird.

Ein neuer Staat ist keine Lösung für das Bevölkerungsproblem – Es gibt ein Problem, für das der Vorschlag „eigener Staat“ keine Lösung ist. Das ist das rasante Bevölkerungswachstum. Besonders aufschlussreich ist die Entwicklung im Gazastreifen:

Anzahl der Einwohner in Millionen nach Jahren (ab 2030 Prognosen):

1950: 0,25 1960: 0,31 1970: 0,34 1980: 0,46 1990: 0,65 2000: 1,13 2010: 1,51 2020: 1,97 2024: 2,14 2030: 2,40 2040: 2,82 2050: 3,19

Im Jahr 1950 lebten im Gazastreifen 250.000 Einwohner. Diese Zahl ist bis zum Jahr 2024 auf 2,14 Millionen angestiegen. Sie hat sich also fast verzehnfacht, und die Zunahme war seit den 1990er Jahren besonders hoch. Bei der zusätzlichen Bevölkerung handelt es sich nicht um eine aus Israel vertriebene Bevölkerung, sondern ausschlaggebend ist die hohe Geburtenrate. Hohe Geburtenraten gibt es auch in anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, aber im Gazastreifen ist das Missverhältnis zwischen der Wirtschaftsleistung und der Geburtenrate besonders groß. Das Gebiet ist weit davon entfernt, auch nur die elementarsten Lebensmittel selbst zu produzieren. Der Gazastreifen ist strukturell unfähig zur Selbsterhaltung. Er ist auf ständige Zufuhr von außen angewiesen. Und diese Abhängigkeit hat mit der Zeit eine neue Qualität erreicht. Der Gazastreifen gleicht einem riesigen Lager mit einer Bevölkerung im Wartezustand. Für die Versorgung mit Lebensmitteln, Wohnungen, Medizin wurde eine machtvolle Verteilungsstruktur geschaffen, aber es war keine Hilfe zur Selbsthilfe. Eine wirtschaftliche Binnenentwicklung der Gebiete fand kaum statt, und so konnte sich auch keine entsprechende Motivation der jüngeren Generation ausbilden. Eher bildete sich eine starke Anspruchshaltung aus, die sich nach außen richtete, insbesondere gegen Israel.

Kann man in einer solchen Situation von „Schuld“ sprechen? Eher muss man von einer tragischen Situation sprechen, denn die so große jüngere Generation wird ja in eine Situation hineingeboren, in der sie gar keine anderen Erfahrungen machen kann, und in der es auch keine schnellen Erfolge gibt. Angesichts dieser Situation verbietet sich jede Kritik von leichter Hand. Aber es darf nichts geschehen, was die Stabilitätsfaktoren in der Region gefährdet und zu einer Ausbreitung gescheiterter Staaten und Volkswirtschaften führt. Diese Sorge teilt Israel mit vielen arabischen Ländern im Nahen Osten. Die Tatsache, dass soeben auf einer Konferenz dieser Länder ein Verzicht der Hamas auf die Macht im Gazastreifen gefordert wurde, zeigt diese Sorge.

Ein Zwischenresümee – An dieser Stelle lässt sich ein Zwischenresümee ziehen. Das „Diesseits von Krieg und Frieden“ muss sich in einem neuen Vorrang für die Binnenentwicklung in den beiden Krisenregionen niederschlagen. Das größte Motiv, um bei erheblichen Gegensätzen doch eine Koexistenz einzugehen und sie bei Krisen auch durchzuhalten, liegt in dem Vorrang, der der Entwicklung „im eigenen Land“ eingeräumt wird. Hingegen ist die Gefahr, dass die Koexistenz zerbricht, dann groß, wenn globalisierende Ansprüche und Versprechungen die Oberhand gewinnen. Sie führen dazu, die Widrigkeit der Realität zu unterschätzen, aber auch dazu, die eigenen Kräfte zu vernachlässigen.

Ein zweiter Teil folgt.

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