
Die Wähler setzen bei der Erststimme ihr Kreuz und schicken so ihren lokalen Abgeordneten nach Berlin – doch dafür gibt es keine Garantie mehr! Denn bei der Bundestagswahl wird nach einem neuen Wahlrecht abgestimmt. NIUS erklärt die Bedeutung für die Wahl.
Wenn Deutschlands Wähler heute ihre Stimmzettel in die Urnen werfen, werden sie erstmals nach dem neuen Wahlrecht der Ampel-Koalition über die Zusammensetzung des nächsten Bundestages entscheiden. Auf dem Wahlzettel? Kein Unterschied! Doch wer ins Parlament einzieht, ist bis zur Verkündung der Schlussergebnisse unklar.
Mit der Wahlrechtsreform wird die Zweitstimme wichtiger als bisher. Denn um ein errungenes Direktmandat sicher zu erhalten, muss dieses inzwischen durch das Zweitstimmen-Ergebnis gedeckt sein. Bisher war es so, dass derjenige, der ein Direktmandat gewann, seinen Sitz im Bundestag sicher hatte. Dies ist jetzt nicht mehr zwangsläufig der Fall.
Beispiel: Holt eine Partei in einem Bundesland 50 Direktmandate – nach dem Zweitstimmen-Ergebnis stehen ihr aber nur 48 Mandate im Parlament zu, dann gehen die beiden Direktkandidaten mit den schlechtesten Erststimmen-Ergebnissen leer aus. Dadurch kann es sein, dass insbesondere größere Städte, wo die Direktkandidaten-Ergebnisse besonders knapp sind, kein Direktmandat im Bundestag erhalten.
Ja. Das wurde höchstrichterlich vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet. Dieses entschied in seinem Urteil vom 30. Juli vergangenen Jahres, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Dennoch ist die politische Empörung über dieses Verfahren groß – vor allem bei der CSU. Verständlicherweise. Denn: Die CSU holte bei der Bundestagswahl 2021 in 45 der 46 bayerischen Wahlkreise das Direktmandat. Nach ihrem bundesweiten Zweitstimmen-Ergebnis hätte sie aber nur 34 Sitze im Bundestag bekommen dürfen. 11 der 45 Mandate waren also Überhangmandate – die es jetzt nicht mehr gibt. Die CSU gilt also als Verlierer bei dieser Reform.
Die CDU/CSU feierte ihren Wahlkampfabschluss am Samstag in München
Ursprünglich sah das Gesetz auch vor, die sogenannte Grundmandatsklausel zu streichen. Nach ihr zogen Parteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten, trotzdem in der Stärke ihres Zweitstimmen-Ergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate holten.
Karlsruhe erklärte jedoch die Fünf-Prozent-Hürde ohne die Grundmandatsklausel für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Das höchste deutsche Gericht verlangte eine Neuregelung und setzte bis dahin die Grundmandatsregelung wieder in Kraft.
Bei der Wahl 2021 war dies die Linke. Sie kam zwar nur auf 4,9 Prozent der Zweitstimmen, holte aber in Berlin zwei und in Leipzig ein Direktmandat. Dadurch zog sie mit 39 Abgeordneten in den Bundestag ein. Aber auch hier könnte die CSU ein Hauptbetroffener werden. 2021 gewann die nur in Bayern antretende Partei 5,2 Prozent der bundesweiten Zweitstimmen.
Linken-Chefin Heidi Reichinnek
Theoretisch hätte bei der Wahl jetzt die Situation eintreten können, dass die CSU unter die Fünf-Prozent-Marke rutscht und damit – mangels Grundmandatsklausel – aus dem Bundestag fliegt, obwohl sie wieder alle oder fast alle Direktmandate geholt hat. Dem hat Karlsruhe mit seinem Urteil einen Riegel vorgeschoben.
In den vergangenen Jahren wurde der Bundestag von Wahl zu Wahl immer größer. Die Sollgröße lag eigentlich bei 598 Abgeordneten. Doch bei der Bundestagswahl 2013 zogen 631 Abgeordnete ins Parlament ein, 2017 waren es schon 709 und 2021 dann 736 Abgeordnete.
Der Bundestag entwickelte sich auf diese Weise zum größten frei gewählten Parlament der Welt. Damit ist nun Schluss. Durch die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition wird die Größe des Bundestages auf 630 Abgeordnete begrenzt.
Aufgebläht wurde der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate. Diese wird es jetzt nicht mehr geben. Überhangmandate entstanden, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate holte als ihr nach ihrem Zweitstimmen-Ergebnis zustanden. Diese Mandate durfte sie behalten. Die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate.
Bei der Bundestagswahl 2021 fielen 34 Überhang- und 104 Ausgleichsmandate an. Dabei wurden 3 der 34 Überhangmandate nicht ausgeglichen.
Zunächst nichts. Die Wahlberechtigten können weiterhin zwei Stimmen vergeben – die Erststimme, mit der sie einen Kandidaten direkt wählen können, die Zweitstimme, die sie an eine Partei vergeben. Es ist auch bei dieser Bezeichnung geblieben. Ursprünglich wollten die Ampel-Fraktionen sie durch die Begriffe „Wahlkreisstimme“ und „Hauptstimme“ ersetzen. Sie sahen dann aber ein, dass eine solche Umbenennung für Verwirrung sorgen könnte.
Es bleibt auch bei der Aufteilung des Bundesgebietes in 299 Wahlkreise. Und es bleibt bei der Fünf-Prozent-Sperrklausel: Für den Einzug in den Bundestag muss eine Partei mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erringen. Oder aber mindestens drei Direktmandate holen.
Wohl kaum. Die Union drängt darauf, es nach einem Wahlsieg wieder zu ändern. In ihrem Wahlprogramm gibt es den Punkt „Ampel-Wahlrecht abschaffen“. Allerdings kämen CDU und CSU in schwere Erklärungsnöte, wenn die Zahl der Abgeordneten wieder zunehmen würde, nachdem es gerade gelungen ist, sie signifikant zu reduzieren.
In Koalitionsverhandlungen dürfte dies ein schwieriger Punkt werden, weil die Union absehbar als Partner auf eine der bisherigen Ampel-Parteien angewiesen sein wird. Diese müsste dann bereit sein, die von ihr mitentwickelte Wahlrechtsreform wieder rückgängig zu machen.
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