
Es war seltsam still geworden um Merz‘ zentrales Wahlkampfversprechen – am ersten Tag wolle er alle illegalen Migranten zurückweisen, auch bei Asylgesuchen. Er selbst schwieg zu diesem Thema seit Tagen völlig und überließ das Thema seinem Innenminister Alexander Dobrindt. Und der scheint zuerst ernst zu machen, am frühen Mittwochnachmittag sickern Berichte durch, Dobrindt habe tatsächlich angeordnet, an der Grenze auch bei Asylgesuchen zurückzuweisen. Es scheint tatsächlich so, als mache die neue Regierung ernst. Dobrindt will die neuen Maßnahmen gemeinsam mit dem Präsidenten der Bundespolizei, Dieter Romann, verkünden. Doch die angekündigte Pressekonferenz verzögert sich um Stunden.
Dobrindt verkündet die Maßnahme schließlich – seine Weisung beinhaltet allerdings ein entscheidendes Wort. In seiner einseitigen Anweisung schreibt er: „Hiermit nehme ich die mündliche Weisung vom 13. September 2015 gegenüber dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums zurück. Die Anwendung der Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG führt dazu, dass Schutzsuchenden bei der Einreise aus einem sicheren Mitgliedstaat die Einreise verweigert werden kann.“
In diesem historischen Absatz, der Rücknahme von Merkels Grenzöffnung, ist ein Wort unterstrichen: kann. Die Einreise kann verweigert werden – sie muss nicht. Dobrindt macht das bei der Pressekonferenz auch klar: Es gehe nicht darum, dass „wir morgen anfangen, alle zurückzuweisen“. Es sei „keine Grenzschließung“. Vielmehr sieht er die Maßnahme als Werkzeug, um sukzessive mehr Zurückweisungen möglich zu machen. Das Instrument ist durchaus scharf – das Tag-1-Versprechen des Friedrich Merz ist es aber nicht mehr.
Friedrich Merz fliegt derweil durch Europa – nach Paris und nach Warschau – und spricht über internationale Politik. In Polen kommt es dann zu einer denkwürdigen Pressekonferenz. Premier Donald Tusk übt bei dem gemeinsamen Auftritt scharfe Kritik an der neuen deutschen Grenzpolitik. Er mahnt Deutschland zu einem „gemeinsamen“ Vorgehen mit seinen Nachbarn. Dann sagt Tusk: „Ich will es nicht leugnen, dass es den Eindruck gibt, dass Deutschland nach Polen jetzt Migrantengruppen schickt – das werden wir nicht akzeptieren.“ Merz meint, alles sei abgestimmt. Er verkündet, Dobrindt angerufen zu haben und um eine gemeinsame Lösung gebeten zu haben.
Jetzt berichtet die Bild, dass im Vorfeld bei einem Telefonat Tusk gegenüber Merz Bedenken geäußert habe. Zusätzliche Zurückweisungen würden Chaos produzieren. Die Bild erfuhr aus polnischen Regierungskreisen, dass Merz gegenüber Tusk Entwarnung gegeben habe. Laut polnischer Seite soll der Kanzler gesagt haben, dass sich am jetzigen Status Quo nichts ändern werde. Was das bedeutet, ist unklar. Heißt das, der Status Quo der Grenzkontrollen bleibt in Wahrheit bestehen – die große Migrationswelle wird ganz klein?
Auch im Nachgang übten Polen und die Schweiz scharfe Kritik an neuen Zurückweisungen. Es war in den Koalitionsverhandlungen der große Knackpunkt der Migrationsfrage: Die SPD machte immer wieder klar, dass es keine Zurückweisungen ohne Einvernehmen mit den europäischen Partnern geben könnte – genau eine solche Absprache ist aber schwierig, da die Nachbarn wenig Interesse haben, die Migranten dann bei sich zu behalten.
Im Koalitionsfrage ließ man die entscheidende Frage mit der Formulierung „in Absprache“ einfach offen. Merz ließ die Frage immer offen. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages kam es zur bemerkenswerten Situation, dass er explizit gefragt wurde, was „in Absprache“ denn bedeute – wenn die Nachbarn ablehnen, kommt die Asylwende dann trotzdem? Merz‘ Antwort: „In Absprach“ bedeute „in Absprache“. Jetzt bricht der aufgeschobene Konflikt über die Regierung herein. Was genau das Resultat ist, bleibt unklar – es scheint aber ziemlich offen.