
Allen wirtschaftlichen Belastungen zum Trotz erlebt der deutsche Arbeitsmarkt seit ziemlich genau zwanzig Jahren einen Boom. Von damals 39,3 Millionen war die Anzahl der Erwerbstätigen im vergangenen Jahr auf knapp 46 Millionen gestiegen, darunter knapp 35 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Durch den fortwährenden Beschäftigungsanstieg ist die Anzahl der Arbeitslosen von damals mehr als 5 Millionen auf 2,2 Millionen im Jahr 2019 zurückgegangen. Das hat in der Sozialversicherung zu paradiesischen Verhältnissen geführt. Denn die Gleichzeitigkeit von sinkender Arbeitslosigkeit und höherer Erwerbstätigkeit hat den Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherungen steigende Beitragseinnahmen bei rückläufigen Leistungen beschert.
Die resultierenden Möglichkeiten haben CDU/CSU- und SPD-geführte Regierungen der vergangenen Jahrzehnte nicht nur weidlich für Sozialreformen zur Stärkung des Rückhalts in ihrer Wählerschaft genutzt. Zudem konnten sie wegen der günstigen Beschäftigungsentwicklung aufkommende Zweifel oder sogar Unmut über ihren wirtschafts- und klimapolitischen Kurs immer wieder zerstreuen. In Anbetracht dieser Beschäftigungsentwicklung konnte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA) und ehemalige SPD-Bundesarbeitsministerin, Andrea Nahles, bis im vergangenen Jahr immer wieder aufs Neue erklären, dass sich der deutsche Arbeitsmarkt trotz aller Widrigkeiten „robust“ zeige, der Beschäftigungsaufbau weiter voranschreite und sich der Arbeitsmarkt sogar „als Stabilitätsanker in einer von Krisen geprägten Zeit“ erweise.
Seit drei Jahren werden die voranschreitenden Jobverluste in der Industrie durch den Aufbau von Beschäftigung „vor allem in staatsnahen Bereichen“ ausgeglichen, so die BA. Alleine in der öffentlichen Veraltung kamen in den vergangenen drei Jahren fast 130.000 Beschäftigte hinzu, noch stärker war der Beschäftigungsanstieg in den Bereichen Gesundheitswesen, Erziehung und Unterricht sowie Pflege und Soziales, wo in drei Jahren insgesamt 330.000 zusätzliche Jobs entstanden.
Nun musste Nahles am vergangenen Freitag bei der Vorstellung des Arbeitsmarktberichts den Anstieg der statistisch erfassten Arbeitslosigkeit – die sehr viel niedriger liegt als die Tatsächliche – auf über drei Millionen Menschen im Monat Juli einräumen. Ihren langjährigen Schönwettermeldungen zum Trotz war diese Negativentwicklung schon seit langem absehbar. Gleichzeitig nimmt die Arbeitslosigkeit beschleunigt zu. Von 2,2 Millionen im Jahr 2019 ist die Anzahl der Arbeitslosen um etwa 800.000 angestiegen, so dass die Arbeitslosenquote von damals 5,0 Prozent auf jetzt 6,3 Prozent geklettert ist.
Die BA zeigt sich von dieser Entwicklung jedoch ebenso überrascht wie Wirtschaftsforscher und Bundesregierungen, die die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland seit vielen Jahren systematisch überschätzen oder sogar schönreden. So rechnet die BA nun mit einem Anstieg des diesjährigen Defizits in der Arbeitslosenversicherung von geplanten 1,33 auf voraussichtlich 5,3 Milliarden Euro. Um dies möglichst ohne ausufernde öffentliche Diskussion unter den Teppich zu kehren, hat Nahles mit Rückendeckung der Bundesregierung eine Anhebung der Beitragssätze zur Finanzierung des Defizits sofort ausgeschlossen. Und um die Finanzierung möglichst geräuschlos zu gewährleisten, soll das Defizit nicht mit Steuergeldern gestopft werden. Vielmehr will die Bundesregierung mit einem rückzahlbaren Darlehen des Bundes in Höhe von 3,8 Milliarden Euro aushelfen.
Zwar musste die BA den Haushaltausschuss des Bundestages in einem Bericht vorwarnen, dass wegen der schwachen Arbeitsmarktentwicklung bis 2029 weitere Milliardenhilfen erforderlich werden dürften. Um dennoch den Ball möglichst flach zu halten, schreibt die BA, dass diese Einschätzung „einer hohen Unsicherheit“ unterliege , und Nahles versucht den nun drohenden Beschäftigungsabbau als Folge einer nur „konjunkturellen Schwäche“ abzutun. So kann sie sich, wie auch die Bundesregierung, zuversichtlich zeigen, dass die Maßnahmen zur Konjunkturbelebung schon im nächsten Jahr für mehr Beschäftigung sorgen werden und der nun begonnene Beschäftigungsabbau wieder umgekehrt wird. Prompt erklärte sie bei der Vorstellung des Arbeitsmarktberichts, mit nunmehr drei Millionen Arbeitslosen sei „jetzt eine Talsohle erreicht am Arbeitsmarkt“. Ganz in diesem Duktus vermeldete Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), dass die hohe Arbeitslosigkeit eine Folge wirtschaftlicher Unsicherheiten und des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sei und dass der „konjunkturelle Gegenwind“ Gegenmaßnahmen erfordere, die die Bunderegierung mit dem „Investitionsbooster“ längst eingeleitet habe.
Die Regierungskoalition hat ein überragendes Interesse, den voranschreitenden Beschäftigungsabbau und den daraus resultierenden Anstieg der Arbeitslosigkeit zu einem nur konjunkturellen Problem kleinzureden. Denn dies erleichtert die Fortsetzung des zunehmend auf Pump und mit billigem Geld finanzierten wirtschafts-, sozial- und klimapolitischen Kurses, den beide Parteien in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vorangetrieben haben. Sie fürchten eine öffentliche Infragestellung dieses Kurses oder gar eine erzwungene Änderung ihrer Agenda, was innerhalb ihrer eigenen und längst erodierten Wählerbasis einen weiteren Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust verursachen würde.
Der aktuelle Beschäftigungsrückgang in Deutschland wird sich jedoch weder als temporäres noch als leicht überwindbares Phänomen erweisen. Denn der oft als Jobwunder verklärte Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahrzehnte, der in vielen Branchen und Regionen zu einem Fach- und Arbeitskräftemangel geführt hat, beruht keineswegs auf wirtschaftlicher Stärke, sondern im Gegenteil auf rückläufigen Investitionen der Unternehmen in die technische Verbesserung ihrer Wertschöpfungsprozesse und das dadurch schwindende Produktivitätswachstum. So erhöhte sich die Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätigenstunde von 2005 bis 2019 nur noch um magere 0,8 Prozent pro Jahr, also insgesamt um 12,2 Prozent im gesamten Zeitraum. Damit war der Produktivitätsfortschritt weit geringer als im historischen Durchschnitt, der in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts bei etwa 2 Prozent liegt.
Der jahrzehntelange Beschäftigungszuwachs und der daraus entstandene Personalmangel war ein Anzeichen für ausbleibende produktivitätssteigernde Investitionen der Unternehmen zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit und ein fortwährendes Alarmsignal, das jedoch beiseitegeschoben und ignoriert wurde. Typisch für diese Ignoranz war die Reaktion des damals CDU-geführten Bundesfinanzministeriums (BMF) auf das Jahresgutachten 2015/2016 des Sachverständigenrats in dem die Produktivitätsschwäche ausführlich thematisiert wurde. Das BMF wiegelte mit dem Hinweis ab, dass man das sinkende Wachstum der Arbeitsproduktivität „angesichts der historisch niedrigen Arbeitslosigkeit [für] vertretbar“ halte.
Da die Unternehmen in Verhältnis zu ihrer Wertschöpfung immer weniger in Ausrüstungen investieren, hat sich die Produktivitätsschwäche in Deutschland auch nach 2019 fortgesetzt und sogar verschärft. Seit 2019 sind die realen Ausrüstungsinvestitionen in Deutschland sogar um mehr als 10 Prozent gesunken. Infolgedessen stieg die Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätigenstunde von 2019 bis 2024 nur noch um insgesamt 1,3 Prozent, so dass inzwischen praktisch kein Produktivitätsfortschritt mehr erreicht wird. Daher gelingt es den Unternehmen nicht mehr, wirtschaftliche Belastungen, wie insbesondere explodierende Energiekosten – die durch die einseitig auf ausschließlich auf erneuerbare Energie und Klimaneutralität ausgerichtete Energiepolitik verursacht werden – mit Hilfe produktivitätssteigernder Investitionen auszugleichen. Ganz im Gegenteil verfolgen die Unternehmen vor allem energieintensiver Branchen seit Jahrzehnten Desinvestitionsstrategien, was die Produktivitätsschwäche in Deutschland verstärkt.
Dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen massiv beinträchtig ist und weiter sinkt, pfeifen die Spatzen längst von den Dächern. Nach Analysen des ifo-Instituts erodiert die Wettbewerbsposition des Verarbeitenden Gewerbes seit 2018 mit zunehmender Geschwindigkeit. In den Jahren 2023 und 2024 beklagten etwa 20 Prozent der deutschen Industrieunternehmen eine Verschlechterung ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber weltweiten Wettbewerbern, seit April 2025 liegt der Wert bei knapp 25 Prozent. Die Wettbewerbsschwäche zeigt sich deutlich an dem seit 2017 rückläufigen Exportmarktanteil Deutschlands, der ab 2021 sogar beschleunigt sinkt. Die deutsche Industrie verliere Marktanteile im internationalen Wettbewerb, unter anderem aufgrund der höheren Energiepreise und stärkerer internationaler Konkurrenz, vor allem aus China, so die Bundesbank.
Erstens fällt der Außenbeitrag (das ist der Saldo aus Güterexport und -import) bereits seit 2017 wegen der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit als treibende Säule aus. Seitdem hat er einen negativen Wachstumsbeitrag von insgesamt 3,5 Prozent des BIP beigesteuert. Auch die Bruttoanlageinvestitionen liefern als zweite Säule des BIP-Wachstum seit 2019 mit insgesamt etwa 2 Prozent einen beschleunigt negativen Wachstumsbeitrag. Da die durchschnittlichen Reallöhne und realen Renten noch immer nicht über das Niveau von 2019 gestiegen sind, stagniert auch der private Konsum auf dem damaligen Niveau, so dass auch die dritte Säule keinen Wachstumsbeitrag liefert. Als vierte Wachstumsquelle verblieb in den vergangenen Jahren der staatliche Konsum, der seit 2019 – hauptsächlich mit Hilfe von Sondervermögen – einen Wachstumsbeitrag von 3 Prozent zum BIP beigesteuert hat.
Infolgedessen ist das reale Bruttoinlandsprodukt Deutschlands heute niedriger als noch 2019, seit drei Jahren schrumpft es. So dürfte es – trotz der von der Bundesregierung vorgesehenen Ausweitung des staatlichen Konsums mittels Billionenschulden – auch in den nächsten Jahren weitergehen und der Beschäftigungsabbau dürfte trotz der inzwischen erreichten Produktivitätsstagnation an Fahrt gewinnen, sofern nicht endlich die Produktivitätsschwäche ins Zentrum der Wirtschaftspolitik gerückt wird. Danach sieht es jedoch nicht aus, denn die Bundesregierung setzt alles daran, die selbstverschuldete wirtschaftliche Depression mit immer mehr Geld zu übertünchen, damit sie ihren wirtschafts-, sozial- und klimapolitischen Kurs nicht ändern muss.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.