Drohnenangriff: Kiew-Operation verändert die Spielregeln der Kriegsführung

vor 10 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Kurz nach Mittag des 1. Juni begannen die russischen sozialen Medien, die Welt auf die bislang dreisteste Operation der Ukraine auf russischem Territorium aufmerksam zu machen. In der rund 4.000 Kilometer von der Ukraine entfernten ostsibirischen Provinz Irkutsk veröffentlichten Einheimische Aufnahmen, die zeigen, wie kleine Quadrocopter-Drohnen aus Lastwagen aufsteigen und auf einen nahegelegenen Flugplatz zusteuern, auf dem einige der wichtigsten strategischen Bomber Russlands stationiert sind.

An diesem Tag gelang der Ukraine ein spektakulärer Schlag gegen russische Stützpunkte fernab der Front. Bei den Drohnenangriffen wurden zahlreiche russische Langstreckenbomber auf gleich mehreren Flugplätzen zerstört. Die russische Flugabwehr schien überrumpelt. Mehrere Bomber gingen in Flammen auf. Der Angriff auf die Stützpunkte wurde nach Auskunft des ukrainischen Präsidenten Selenskyj mit 117 sogenannten FPV-Drohnen durchgeführt. Offenbar war es dem ukrainischen Militär gelungen, diese Drohnen in den vergangenen Monaten heimlich mit LKW in die Nähe der Stützpunkte zu schmuggeln. Sie befanden sich demnach in Containern, deren Dach ferngesteuert geöffnet werden konnte.

Die zerstörten Flugzeuge können Atomwaffen tragen. Russische Bomber sind aber nicht nur Kernbestandteil der nuklearen Abschreckung. Sie kommen seit Beginn des Krieges bei konventionellen Raketenangriffen auf Ziele in der Ukraine zum Einsatz. Dafür fliegen sie in der Regel nicht in den unsicheren ukrainischen Luftraum. Sie feuern ihre Raketen aus großer Entfernung, etwa über dem Kaspischen Meer, ab. Auch ihre Startplätze für diese Einsätze liegen mitunter tief im russischen Hinterland – teilweise eben bis zu 4000 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.

Zu den angegriffenen Flugplätzen sollen die Luftwaffenstützpunkte Belaja im Gebiet Irkutsk, Olenja im Gebiet Murmansk, Djagilewo im Gebiet Rjasan, sowie Iwanowo im gleichnamigen Gebiet zählen.

Militärexperten äußerten sich im Internet erstaunt darüber, dass die russische Bomberflotte auf den Stützpunkten nahezu ungeschützt parkt. Bisher konnte Russland davon ausgehen, dass die Ukraine diese Stützpunkte mit den ihr zur Verfügung stehenden Waffen nicht erreichen kann. Mit der Geheimdienstoperation vom Sonntag hat Kiew jedoch gezeigt, dass die ukrainische Armee in diesem von Anfang an maßgeblich von Drohnen bestimmten Krieg schnell lernt und die Technik sich rasant weiterentwickelt.

Der ukrainische Geheimdienst SBU hat inzwischen die Verantwortung für die Operation mit dem Codenamen „Spinnennetz“ übernommen. Er behauptete, mindestens 41 russische Flugzeuge seien auf vier Flugplätzen zerstört oder beschädigt worden. Nachdem Analysten dies auf Grundlage von Satellitenaufnahmen bezweifelten, sprach der ukrainische Generalstab am Dienstag von insgesamt zwölf zerstörten Flugzeugen. Laut dem ukrainischen Präsidenten hatte der Inlandsgeheimdienst SBU die Operation mehr als anderthalb Jahre lang geplant.

Der Angriff war einer der schwersten Schläge, die die Ukraine Russland in diesem mittlerweile vierjährigen Krieg zugefügt hat. Russland verfügt über vergleichsweise wenige strategische Bomber: Insgesamt sind es vermutlich weniger als 90 einsatzfähige Tu-22, Tu-95 und neuere Tu-160.

Die Tatsache, dass die Ukraine eine so große Anzahl modernster russischer Flugzeuge tief im Landesinneren beschädigen oder zerstören konnte, spiegelt zum einen die Entwicklung ihres Tiefschlagprogramms wider, zum anderen zeigt sie das bemerkenswerte Ausmaß, in dem ukrainische Geheimagenten nun in Russland agieren können. Seit Beginn des Ukraine-Krieges haben die ukrainischen Operationen an Reichweite, Ambition und Raffinesse zugenommen. Die Ukraine profitiert dabei nicht nur von den Informationsflüssen westlicher Geheimdienste, sondern wird auch von westlichen Ländern bei ihrem Tiefschlagprogramm unterstützt. Deutschland hat zuletzt am 28. Mai die Finanzierung ukrainischer Langstreckendrohnen versprochen.

Die Verteidigungsminister beider Länder unterzeichneten diesbezüglich in Berlin eine Absichtserklärung über die Beschaffung weitreichender Waffensysteme (unter anderem Drohnen) aus ukrainischer Produktion. Wie aus Regierungskreisen gegenüber der WELT bekannt wurde, hatte die Ukraine bereits Anfang Mai das deutsche Verteidigungsministerium um die Finanzierung von sogenannten Deep-Strike-Drohnen der Typen BARS und AN-196 sowie von Drohnen des Typs Flamingo gebeten. Dies wurde von Deutschland bewilligt. Die BARS könnte sogar eine größere Reichweite als der deutsche Marschflugkörper Taurus haben, dessen Reichweite bei über 600 km liegen soll. Insgesamt geht es um einen Wert von rund 400 Millionen Euro. Durch die Finanzierung von Langstreckendrohnen aus ukrainischer Produktion werden Waffen bereitgestellt, die tief im russischen Territorium wirken können.

Die Operation vom 1. Juni dürfte laut dem Magazin The Economist zu den wichtigsten Angriffsaktionen der modernen Kriegsführung zählen. Kommentatoren aus dem Umfeld der ukrainischen Sicherheitsdienste gehen davon aus, dass für die Operation bis zu 150 Drohnen und 300 Sprengköpfe nach Russland geschmuggelt wurden. Die Drohnen nutzten russische Mobilfunknetze, um ihre Aufnahmen in die Ukraine zu übertragen.

Militärexperten und Verteidigungsbeamte im Westen beobachten die Lage aufmerksam. Solche Operationen zeigen, wie effektiv unbemannte Luftfahrzeuge für präzise Angriffe und Aufklärungszwecke eingesetzt werden können. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit deutlich, die eigene Luftverteidigung zu verbessern, um solche Bedrohungen abwehren zu können.

Seit Jahren konzentriert das Militär im Westen aus Kostengründen seine Flugzeuge auf immer weniger Luftwaffenstützpunkte. Sie investieren nicht in festgeschützte Hangars oder Schutzräume, um ihre Ausrüstung vor Drohnen und Raketenangriffen zu schützen. Selbst strategische Bomber der USA stehen auf öffentlichen Satellitenbildern im Freien.

Tom Shugart von der Denkfabrik CNAS in Washington schreibt: „Stellen Sie sich vor, an einem Spieltag öffnen sich Container auf Güterbahnhöfen, auf chinesischen Containerschiffen im Hafen oder vor der Küste, auf Lastwagen, die auf beliebigen Grundstücken geparkt sind, und Tausende von Drohnen fliegen los und zerstören zumindest die Kronjuwelen der US Air Force.“ Das, warnt er, sei „durchaus machbar“.

Der ukrainische Drohnenangriff warf einen Schatten auf die jüngste Runde von Friedensgesprächen, die am 2. Juni in Istanbul stattfanden. Eine Quelle aus dem ukrainischen Verteidigungsministerium sagte der gegenüber Ukrainska Prawda, die russische Delegation habe damit gedroht, dass solche Aktionen „die Verhandlungen stören“ und zu einer „Fortsetzung der Feindseligkeiten“ führen könnten. US-Präsident Donald Trump hat eigenen Angaben zufolge erneut mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. In einem Beitrag auf seiner Plattform Truth Social schrieb Trump, das Gespräch sei zwar gut gewesen, es habe jedoch keine Aussicht auf einen sofortigen Frieden in der Ukraine geboten. Putin habe angekündigt, auf die jüngsten ukrainischen Drohnenangriffe auf russische Militärstützpunkte reagieren zu wollen.

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