
Polen hat in den vergangenen Wochen mit wachsender Unruhe beobachtet, dass wiederholt Drohnen aus dem Osten in seinen Luftraum eingedrungen sind. Die Lage eskalierte, als ein Drohnenschwarm das Land überflog. Neunzehn Drohnen wurden dem Bericht zufolge abgefeuert, die meisten davon aus Belarus, wo russische Truppen ungehindert operieren können. Die Operation erfolgte im Vorfeld der gemeinsamen Militärübung zwischen Moskau und Minsk namens „Sapad 2025” („Westen“). Mehrere NATO-Staaten, darunter Deutschland, reagierten darauf militärisch und entsandten Kampfflugzeuge, um den polnischen Luftraum zu schützen.
Laut Moskau sind die Drohnen vom Kurs abgekommen, da sie durch elektronische Störungen abgedriftet sind. Verteidigungsexperten halten dies für unwahrscheinlich.
Selbst wenn es stimmt, deutet es auf ein provokantes Verhalten Russlands hin. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Russland Polen und die NATO gezielt auf militärische und politische Schwächen austestete – und zwar auf eine Art und Weise, die es Russland ermöglicht, die Verantwortung von sich zu weisen.
Nach dem massiven Eindringen russischer Drohnen fordert Polens neuer Präsident Karol Nawrocki die NATO zu verstärkten Anstrengungen zur Abschreckung auf. Nawrocki bekräftigte, er habe keinen Zweifel, dass das Eindringen der Drohnen „ein direkt aus Moskau gesteuerter Angriff war“. Es sei Angriff, der zeigt, „wozu Wladimir Putin fähig ist“. Obwohl nur drei oder vier von 19 Drohnen abgeschossen wurden, zeigte sich der Staatschef zufrieden: „Sie haben keinen polnischen Soldaten, keinen Polen getötet.“
Nach dem Vorfall beantragte Polen gemäß Artikel 4 Beratungen mit seinen Verbündeten. Die Berufung Polens auf Artikel 4 des NATO-Vertrags und die damit verbundenen Konsultationsforderungen in der vergangenen Woche stellten eine neue Eskalationsstufe dar. In der Geschichte der NATO wurde Artikel 4 nur in wenigen Fällen in die Wege geleitet – zuletzt im Jahr 2022 im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg.
Während europäische Verbündete der Ukraine sofort auf den Drohnenschwarm über Polen reagierten, verlor Trump über Tage kaum ein Wort über das Eindringen russischer Drohnen in das NATO-Land Polen. Wieder hob er hervor, der Ukraine-Krieg sei nicht sein Krieg, sondern „Bidens und Selenskyjs Krieg“. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wertete die jüngsten Drohnenvorfälle als „Ausweitung des Krieges durch Russland nach Westen“. Trump betrachtet diesen Krieg hingegen als europäischen Konflikt, für den in erster Linie EU-Staaten Verantwortung tragen.
Am Wochenende veröffentlichte Trump dann doch ein Schreiben auf „Truth Social“, das er an alle NATO-Mitglieder gerichtet hatte: Er sei bereit, bedeutende Sanktionen gegen Russland zu verhängen, sofern sich alle Mitglieder der Allianz auf diesen Schritt verständigten und aufhörten, Öl aus Russland zu erwerben. Die Europäer sollen demnach auf russisches Öl verzichten. Trump forderte zudem Sekundärsanktionen der NATO-Staaten gegen China und Indien, um den Kreml unter Druck zu setzen. Er sei jedenfalls bereit, den Schritt zu gehen, wenn alle in der Allianz es auch seien, hieß es in Trumps Schreiben weiter. Er glaube, dass dieser Schritt sowie die Verhängung von Strafzöllen gegen China von 50 bis 100 Prozent durch die NATO-Staaten helfen werde, den Krieg zu beenden.
Der Vorstoß, Sekundärsanktionen, die bereits im Juli gegen Indien verhängt wurden, nun auch auf China auszuweiten und zudem jene EU-Mitglieder, die noch immer Energie aus Russland beziehen, zur Umkehr zu drängen, wirft Fragen auf. Ist dies ein ernst gemeinter Vorstoß des US-Präsidenten? Oder weiß er, dass sich europäische Staaten nicht darauf verständigen können werden?
Angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen sowie der zu erwartenden Vergeltungsmaßnahmen Pekings ist es schwer vorstellbar, dass die EU ihrem Handelspartner derart hohe Zölle auferlegt. China ist nach den USA der zweitgrößte Handelspartner der EU. Gleichzeitig ist die EU derzeit dabei, ihre Beziehungen zu Indien zu vertiefen. Indien hat bereits Freihandelsabkommen mit Ländern und Gruppen wie Japan (seit 2011) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) abgeschlossen. Letzteres soll im Oktober 2025 in Kraft treten. Aktuell laufen noch Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU sowie mit Großbritannien.
Trump möchte die Gangart gegenüber der Kremlführung verschärfen, ohne dabei eine neue Eskalationsstufe zu riskieren. Seit dem ergebnislosen Treffen mit Putin Mitte August ist der Druck auf den US-Präsidenten im In- und Ausland gewachsen. Seine Forderung an die NATO-Staaten, Sekundärsanktionen zu verhängen, war wohl eher eine Botschaft an das heimische Publikum, da ihn Umfragen zufolge viele für zu nachgiebig gegenüber Putin halten.
Moskau produziert seit Beginn des Ukraine-Kriegs massiv Drohnen. Allein bei der Drohnenfabrik in Jelabuga sind zuletzt wohl Wohnungen für 40.000 Arbeiter entstanden. Die Analyse des „Monitor Luftkrieg Ukraine“ im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung schätzt, dass damit im Herbst 10.000 Drohnenangriffe pro Monat möglich werden. Bei Drohneneinsätzen wendet Moskau vor allem eine Taktik an, die das europäische Kriegskonzept ins Mark trifft. Die russische Armee schickt immer mehr billig hergestellte Drohnenschwärme in das Nachbarland Ukraine. In diese Schwärme mischt Moskau auch Täuschkörper, Gleitbomben und Marschflugkörper, um die Luftabwehr durch Überlastung zu überwinden.
Die neue Form der Kriegsführung entwickelt sich in rasender Geschwindigkeit weiter. Sowohl Russland als auch die Ukraine produzieren bereits mehrere Millionen Drohnen pro Jahr. Im Ukrainekrieg sind Schätzungen zufolge 70 bis 80 Prozent der Verluste an Soldaten und Material auf Drohnen zurückzuführen. Inzwischen weitet sich der Drohnenkrieg aber stückweise über das Territorium der Ukraine hinaus aus.
Das Eindringen der russischen Drohnen in den polnischen Luftraum stellt eine neue Form der Provokation dar: Offen wie selten zuvor fordert die Kremlführung die NATO heraus – und er setzt dabei offensichtlich auf das Kriegsgerät der Zukunft. Die Drohneneinsätze Russlands außerhalb der Ukraine sind jedoch eher als schleichende hybride Kriegsführung gegen die NATO-Staaten zu betrachten als als Zeichen für eine bevorstehende direkte Konfrontation.
Im Juni erklärte NATO-Chef Mark Rutte, dass das Bündnis seine Luftabwehr um 400 Prozent aufstocken müsse, um sein Abschreckungspotenzial aufrechterhalten zu können. Doch die Abdeckung eines so großen Gebiets wie Europas ist ein gewaltiges Unterfangen. Das Problem besteht vor allem darin, dass viele NATO-Luftabwehrsysteme in die Ukraine verlegt wurden, die unter schweren Luftangriffen Russlands steht. Dadurch schrumpfen die europäischen Vorräte. Im August erklärte Deutschland unter dem Druck Trumps, es werde zwei weitere Patriot-Systeme in die Ukraine schicken; weitere sollten folgen, vorausgesetzt, die USA würden diese Systeme auffüllen.
Hinzu kommt: Zwar verfügen die europäischen Luftstreitkräfte über Hunderte von Kampfflugzeugen, von denen viele täglich an der Ostfront des Bündnisses patrouillieren, doch sind die Kommandozentralen dieser Luftoperationen weiterhin auf amerikanische Beteiligung und Frühwarnsysteme angewiesen.
Europa braucht ein neues Sicherheitskonzept. Wer Drohnen, die sich schnell und billig herstellen lassen, nur mit millionenteuren Jagdflugzeugen und Abwehrraketen bekämpfen kann, hat ein großes Problem, wenn der Gegner nicht nur zwei Dutzend, sondern Hunderte dieser Waffen in eine Luftschlacht schickt, wie es Moskau in der Ukraine immer wieder tut. Letztendlich kostet der Krieg in der Ukraine die Europäer immer mehr, ohne die Sicherheit der NATO-Staaten und der Ukraine zu gewährleisten.