
Nach tagelangen, blutigen Kämpfen mit mehr als 500 Toten sowie Berichten über gezielte Exekutionen rückt die Lage in Syrien wieder in den Mittelpunkt der Berichterstattung über den Konflikt im Nahen Osten. Seitdem Ahmad al-Scharaa die Macht übernahm, hat es zahlreiche Angriffe auf Minderheiten gegeben. Anfang März wurden in der Küstenregion innerhalb weniger Stunden 1.500 Alawiten – darunter Männer, Frauen, Kinder und alte Menschen – massakriert. Verübt wurden diese Massaker vor allem von Einheiten der HTS, die offiziell Teil der neuen „syrischen Armee“ sind und somit dem Befehl aus Damaskus unterstehen. Auch die Christen sind nicht sicher. Ende Juni sprengte sich ein IS-Terrorist in der Mar-Elias-Kirche in Dweela, einem Stadtteil von Damaskus, in die Luft.
Das Ausmaß der Gewalt gegen Drusen in Sweida stellt die Fähigkeit der islamischen Machthaber in Damaskus, die syrischen Minderheiten zu schützen, erneut infrage. Seit dem Massaker an den Drusen kursieren Videos im Netz, auf denen zu sehen ist, wie Islamisten alten drusischen Männern die traditionellen Schnurrbärte abrasieren. Diese Bilder sorgen in der syrischen Gesellschaft für Entsetzen und zeichnen ein düsteres Bild der Zukunft Syriens. Inzwischen haben syrische Aktivisten dokumentiert, dass während der jüngsten Welle bewaffneter Zusammenstöße und Unruhen in der Provinz Sweida 80 drusische Frauen und Mädchen entführt worden seien. Die Entführung der Frauen folgte offenbar dem Muster der Entführung alawitischer Frauen in Latakia durch Truppen von Al-Schara im Mai.
Unter Vermittlung der USA, der Türkei und arabischer Staaten wurde zuletzt eine Waffenruhe ausgehandelt. Die Regierungstruppen zogen sich aus Sweida zurück, woraufhin drusische Milizen die Kontrolle übernahmen. Daraufhin flohen viele sunnitisch-muslimische Beduinen aus der Stadt. Ein Kommandeur der Beduinen sagte der Nachrichtenagentur Reuters, die Beduinen fühlten sich an die Feuerpause nicht gebunden, da diese nur für die syrische Armee gelte.
In den vergangenen Tagen wurden in den sozialen Medien Aufnahmen des Beduinenstammesführers Abdul Moneim al-Naseef geteilt. Umgeben von bewaffneten Stammesangehörigen, veröffentlichte er einen Aufruf zur Unterstützung gegen die Drusen. Das heißt, der Konflikt in Südsyrien könnte jederzeit wieder aufflammen. Die sunnitischen Beduinen, die traditionell als Hirten und Viehzüchter arbeiten, stehen seit Jahrzehnten in einem teils erbitterten Konflikt mit der drusischen Bevölkerung.
Die jüngsten Kämpfe in Südsyrien rief das benachbarte Israel auf den Plan. In der vergangenen Woche flog es Luftangriffe im Süden Syriens und auf das Verteidigungsministerium in Damaskus, während die Regierungstruppen gegen die Drusen kämpften. Israel erklärte, es schütze die Drusen, die auch in Israel eine bedeutende Minderheit bilden. Seit dem Ende des Assad-Regimes und der Machtübernahme durch die Rebellen der Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) nutzt Israel seine militärische Überlegenheit.
Israel und Washington sind sich jedoch in Bezug auf Syrien uneinig. Die USA unterstützen ein zentralisiertes Syrien unter der Regierung al-Scharaa, die sich „verpflichtet“ hat, für alle Bürger zu regieren. Israel hingegen erklärt, die Regierung werde von Dschihadisten beherrscht und sei eine Gefahr für Minderheiten. Die USA versorgen Syrien bereits mit Geheimdienstinformationen, um das Land zu stabilisieren. Israel verfolgt jedoch eine andere Strategie. Das Land möchte Syrien zu einem schwachen, föderalen Staat machen, in dem man durch Minderheiten großen Einfluss ausüben könnte. Zu diesem Zweck wirbt Israel sowohl um die Drusen im Süden als auch um die Kurden im Nordosten des Landes. Die USA wollen vor allem Syrien als Bollwerk gegen den mehrheitlich schiitischen Iran und gegen antiwestliche Bestrebungen in der Region aufbauen. Israel hingegen möchte das neue syrische Regime schwächen, um sich selbst Einfluss zu sichern.
Ein Bericht von Reuters enthüllte, dass Al-Scharaa bei der Entsendung von Truppen nach Sweida auf Unterstützung durch die USA gebaut hatte. Insidern zufolge hat sich die syrische Regierung bei der Entsendung von Truppen in den Süden des Landes in der vergangenen Woche offenbar verschätzt und damit israelische Luftangriffe auf Damaskus ausgelöst. Die Führung in Damaskus ging demnach davon aus, für den Einsatz in der drusischen Stadt Sweida, um nach eigenen Angaben Kämpfe zwischen Beduinen und Drusen zu beenden, grünes Licht von den USA und Israel erhalten zu haben. Dies teilten acht mit der Angelegenheit vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters mit. Die syrische Führung stützte ihre Annahme den Angaben der Insider zufolge auf öffentliche und private Äußerungen des US-amerikanischen Sondergesandten für Syrien, Thomas Barrack. Dieser hatte gefordert, Syrien als zentral verwalteten Staat zu regieren.
Hinzu kommt, dass die Partner von Damaskus in Syrien eigene Interessen verfolgen. Saudi-Arabien und die Türkei tragen beispielsweise zu wenig dazu bei, dass ein neuer Gesellschaftsvertrag entworfen wird, der den Weg für eine nachhaltige Befriedung ebnet. Beide Mächte haben ein Interesse an einer Stabilisierung Syriens, verfolgen aber geopolitische Interessen. Für Saudi-Arabien ist al-Scharaa als antiiranischer Alliierter so wertvoll, dass man in Riad sogar eine Ausnahme von der eigenen Abneigung gegen den politischen Islam macht. Ankara betrachtet die neuen Machthaber in Damaskus als nützliche Juniorpartner, etwa wenn es darum geht, kurdischen Autonomiebestrebungen in Nordostsyrien entgegenzutreten.
Die israelische Militäroperation im Libanon und in Syrien wird nicht nur von den amerikanischen Verbündeten mit Sorge beobachtet. Die Golfstaaten lehnen eine iranische Vorherrschaft zwar ab, wollen aber auch keine israelische Hegemonie. Sie befürchten, dass durch Israels Interventionen in Syrien eine Neuordnung der Region nach der Schwächung des Iran gefährdet wird.
Trotz alledem entwickeln sich hinter den Kulissen neue Bemühungen, Syrien wieder in eine westliche Partnerschaft zu integrieren. So soll die Trump-Regierung „Vorgespräche“ mit Israel und Syrien über ein mögliches Sicherheitsabkommen zwischen den langjährigen verfeindeten Staaten geführt haben. Zwar steht eine Normalisierung noch nicht zur Debatte, doch könnten die Gespräche den Grundstein für künftige Bemühungen legen.