
Heinsberg, Kinder-Infektiosität, Barrington-Erklärung – mit diesen Worten sind verpasste Wendepunkte verbunden. Zwischen April und Oktober 2020 stand Deutschland mehrfach an der Schwelle zu einem anderen, besonnenen Kurs der Corona-Politik, näher am sogenannten „schwedischen Weg“, der auf wenige Maßnahmen und viel Freiheit und Freiwilligkeit setzte. Dreimal tat sich ein Fenster auf, durch das frische Luft in die erstarrte Corona-Debatte hätte strömen können. Doch jedes Mal wurde es hastig zugeschlagen.
Statt offener Diskussion herrschte ein Klima rabiater Ausgrenzung: Politischer Druck, mediale Gleichrichtung und eine fast sakrale Gläubigkeit gegenüber einer bestimmten Wissenschaftsfraktion sorgten dafür, dass abweichende Stimmen nicht gehört, sondern diffamiert wurden. Im Zentrum dieser Abwehrreaktionen: Christian Drosten – nicht nur Virologe, sondern Deutschlands Hohepriester einer alternativlosen Pandemiepolitik. NIUS geht zurück zu diesen drei verpassten Wendepunkten: drei verpasste Ausfahrten, die dorthin geführt hätten, wo Schweden jetzt steht – in einem Zustand, in dem das Land nicht zerrissen und beschädigt ist.
Es war nur eine ZDF-Talkshow – und doch ein Meilenstein. In einer Ausgabe von Markus Lanz stellte sich plötzlich etwas ein, das in der Corona-Zeit lange gefehlt hatte: kritische Distanz, offene Rückschau, schonungslose Analyse. Virologe Alexander Kekulé zog Bilanz und stellte dem schwedischen Weg ein besseres Zeugnis aus als der deutschen Linie.
Alexander S. Kekulé bei Markus Lanz
Das Ergebnis sei ähnlich gewesen, sagte er, doch „Deutschland hat einen wesentlich höheren Preis gezahlt“ – finanziell, wirtschaftlich und vor allem durch die „gesellschaftliche Spaltung“. In einem spektakulären Corona-Tribunal, über das NIUS jüngst berichtete, kam Moderator Markus Lanz auch auf die Heinsberg-Studie von Prof. Hendrik Streeck zu sprechen
Die am 9. April 2020 vorgestellte Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Infektionssterblichkeit (IFR) von SARS-CoV-2 bei 0,37 Prozent lag – unterhalb also der 0,5 Prozent einer schweren Grippewelle. Streecks Zahl ergab sich aus einer repräsentativen Erhebung in der Gemeinde Gangelt, in der rund 15 Prozent der Bevölkerung infiziert waren. Im Gegensatz zu Grippewellen mit vergleichbarer oder sogar höherer Sterblichkeit hatte der Staat gerade erst mit tiefgreifenden Maßnahmen wie dem Herunterfahren der Wirtschaft und Maskenpflichten reagiert – flächendeckenden Grundrechtseinschränkungen also, die einen historischen Bruch in der Gesundheitspolitik markieren.
Anstatt nun angesichts Streecks Studie erleichtert aufzuatmen, weil das Virus so tödlich dann doch nicht sein kann, die Freiheitsbeschränkungen also überzogen und zu beenden sind, wurden dem völlig unbescholtenen Wissenschaftler die perfidesten Motive unterstellt. Aus sämtlichen Rohren wurde geschossen: Deutsche Medien vermuteten eine Kampagne von „Rechts“, mit Armin Laschet (CDU) als Strippenzieher, die eine PR-Firma involvierte – nicht nur Zeit Online war jedenfalls höchst alarmiert („Heinsberg-Studie: Drei Männer, ein Protokoll und viele Fragen“), die Tagesschau wollte eine „grob falsche Rechnung“ entdeckt haben. Jemand hatte gar anonym Anzeige gegen Streeck erstellt, die von der Staatsanwaltschaft aber nicht weiterverfolgt wurde; und Christian Drosten behauptete, man könnte aus Streecks Pressekonferenz „gar nichts ableiten“.
Derartige Agitation Drostens war zuletzt bei Markus Lanz Thema, der kritisierte, dass Drosten Streeck rückblickend gar vorgeworfen hatte, mit seiner Studie den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestört und fundamentale Wissenschaftszweifel gesät zu haben, womit die eigentliche Polarisierung begonnen hätte.
„Ich weiß nicht, was ihn da geritten hatte, so eine Aussage zu treffen“, erwiderte Streeck. Er verteidigte seine Arbeit in Heinsberg entschieden und kritisierte die Abwertung durch Drosten scharf: Man habe damals „in Deutschland überhaupt keine Daten“ gehabt – seine Teams hätten als Erste vor Ort geforscht. Sie lieferten grundlegende Erkenntnisse zu Symptomen, Übertragungswegen und Sterblichkeit, die bis heute Bestand haben. Die nach wie vor publizierte Studie habe einen entscheidenden Erkenntnisgewinn für eine verunsicherte Bevölkerung gebracht.
„Wir mussten nichts zurückziehen, weil es immer noch richtig ist“, so Streecks Fazit. Kekulé bekräftigte, dass die Studie „international eine extreme Beachtung gefunden“ habe, er kenne keine Studien aus Deutschland, die als „ähnlich wichtig wahrgenommen wurden.“
Ganz anders liegen die Dinge indes bei Drosten.
Am 29. April 2020 schlug Christian Drosten Alarm: „Kinder können genauso ansteckend sein wie Erwachsene.“ Drostens Aussage stammte aus der Pressemitteilung zu einer noch nicht peer-reviewten Studie seines Instituts. In der Öffentlichkeit bleibt vor allem dieser eine Satz hängen; der politische Effekt ist enorm. Kindergärten und Schulen bleiben vielerorts geschlossen, nicht wegen klinischer Datenlage, sondern wegen eines wissenschaftlichen Zwischenstands, der fragwürdig kommuniziert wurde.
Monate später, in der final veröffentlichten Version der Studie, ist die ursprüngliche Warnung so nicht mehr enthalten. Im Fazit der Studie selbst liest sich die ursprünglich so scharfe Warnung deutlich vorsichtiger: Man finde kaum Belege dafür, dass Kinder weniger ansteckend seien – ein Unterschied ums Ganze zur ursprünglichen Behauptung. Deshalb sprach Kekulé jüngst bei Lanz von einem eklatanten Unterschied: „Ich kritisiere, dass man zuerst an die Öffentlichkeit geht – und dann erst Monate später etwas publiziert, wo dieser Satz gar nicht mehr mit drinsteht.“
Ein deutsches Klassenzimmer – wegen der damaligen Corona-Politik leer.
Drostens Kommunikation schwankte auffällig zwischen der (späteren) Vorsicht des Wissenschaftlers und der (früheren) Alarmrhetorik des öffentlichen Mahners, der auf politische Wirkung seiner Worte setzte. Im Gegensatz dazu blieb Streecks Heinsberg-Studie konsistent – wissenschaftlich belastbar und bis heute unangetastet.
Dabei wäre die ganze Diskussion um die Kinderansteckung, so argumentieren Kritiker rückblickend, eigentlich eine Nebensächlichkeit gewesen: Denn hätte man die Ergebnisse der Heinsberg-Studie ernst genommen – also die im Grippebereich angesiedelte moderate Sterblichkeit von 0,37 Prozent –, hätte sich die Frage, wie infektiös Kinder sind, gar nicht mehr in dieser Dringlichkeit gestellt. Die Schließung von Schulen wäre weder verhältnismäßig noch notwendig gewesen.
Selbst heute behauptet Drosten in seinem Buch „Alles Überstanden?“ noch, dass die Infektionssterblichkeit von Corona „etwa 16-mal so hoch wie die von Influenza“ sei – mit Verweis auf seinen Podcast und eine Studie. Dort nennt er einen IFR-Wert von 0,8 Prozent für Covid-19 und vergleicht ihn mit 0,05 Prozent für Influenza. Jedoch: Die Zusammenfassung der Studie enthält diese Zahl überhaupt nicht. Im Gegenteil, die Autoren warnen ausdrücklich davor, eine pauschale Gesamtsterblichkeit anzugeben. Ihre Aussage: „Die IFR von Covid-19 sollte nicht als fixer Wert betrachtet werden, sondern ist untrennbar mit dem altersabhängigen Infektionsmuster verknüpft. Maßnahmen zum Schutz älterer Menschen könnten die Zahl der Todesfälle deutlich senken.“
Genau auf diese altersdifferenzierte Betrachtung („Altersstratifizierung“ lautet der Fachbegriff) verwies auch der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit bei Markus Lanz. Drostens Zahl zur Corona-Sterblichkeit ist also nicht durch Daten gedeckt – und seine Quelle widerspricht sogar seinem Schluss
Jonas Schmidt-Chanasit bei Markus Lanz
Keine eigenen Daten erhoben, fremde Daten falsch dargestellt und die nach wie vor gültigen Daten eines Wissenschaftskollegen aggressiv angegriffen – das ist Drostens Bilanz in puncto Corona-Sterblichkeit. Die deutsche Corona-Politik hat sich jahrelang an seinen Fehleinschätzungen orientiert.
Im Oktober 2020 veröffentlichten renommierte Wissenschaftler von Harvard, Oxford und Stanford die Great Barrington Declaration – ein Dokument, das für einen differenzierten Pandemiekurs plädierte. Der Vorschlag: Risikogruppen gezielt schützen, während Jüngere ein normales Leben führen und über natürliche Infektion zur Herdenimmunität beitragen. Ihr Argument: „Der einfühlsamste Ansatz besteht darin, denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen […], während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser geschützt werden.“
Christian Drosten reagierte im NDR-Podcast nicht mit wissenschaftlicher Gegenrede, sondern mit pauschaler Diffamierung: „Ich sage hier nur Great Barrington Declaration: Das ist eine ganze Gruppe von Pseudoexperten.“ Auch Jahre später blieb er bei seiner Abwertung. In seinem Buch „Alles überstanden“ bezeichnet er die Erklärung abfällig als ein „Thesen-Papier“ und unterstellt den Verfassern, sie hätten sich weder „mit wissenschaftlichen Kollegen abgeglichen“ noch „die neueste Literatur verfolgt“.
Drosten beharrt rückblickend auf seinen Fehlern – in seinem Buch dokumentiert.
Dabei stand die Barrington-Erklärung nicht allein: Ihre Forderung nach altersstratifizierten Maßnahmen entsprach grundsätzlich jener Linie, die auch andere Virologen wie Kekulé, Streeck oder Schmidt-Chanasit öffentlich vertraten. Es wäre der dritte mögliche Wendepunkt gewesen. Doch erneut wurde er nicht ernsthaft diskutiert, sondern diskreditiert – und wieder hatte Drosten seine Finger im Spiel.
Drei verpasste Wendepunkte im Jahr 2020 – drei Momente, in denen die Richtung sich grundsätzlich hätte ändern können, bevor man ab dem Winter 2020/21 große Teile der Bevölkerung verlor – aufgrund eines monatelangen Dauer-Lockdowns und anderen Übergriffigkeiten. Stattdessen schossen sich die Medien auf die wissenschaftlichen Alternativen regelrecht ein, sie wurden kleingeredet oder moralisch geächtet. Die Fingerabdrücke Drostens liegen auf all diesen Kreuzungen; nicht als alleiniger Entscheider, aber als prägendste Stimme einer Politik, die sich früh auf härteste Maßnahmen und Alternativlosigkeit festlegte – und damit auch auf Spaltung, Misstrauen und gesellschaftliche Erschöpfung.
Die Chancen auf einen moderaten Mittelweg dem Modell Schweden entsprechend waren da – Deutschland ist nur an ihnen vorbeigefahren. Dazu müsste man nur zurückblicken – und anerkennen, was wirklich geschehen ist.
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