Edith Stein: Den Menschen denken und Gott wissen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Der 6. April 1968 bleibt ein denkwürdiger Tag. An diesem Tag hielt auf Bitte des Kardinals Karol Wojtyła der bedeutende polnische Philosoph Roman Ingarden in Krakau vor geladenen Gästen einen Vortrag über Edith Stein. Dass sich der spätere Papst für die Philosophin und Karmelitin interessierte, ging im Wesentlichen auf drei Gründe zurück. Erstens wurde der junge Karol Wojtyła 1948 in Rom über die Glaubensdoktrin beim heiligen Johannes vom Kreuz promoviert, Edith Steins letzte große Arbeit unter dem Titel „Kreuzeswissenschaft“ stellte eine fulminante Auseinandersetzung mit dem mystischen Werk des Johannes vom Kreuz dar.

Als Schülerin des Philosophen Edmund Husserl, der mit der Begründung der Phänomenologie am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der Philosophie auslöste, die einerseits über seinen Schüler Martin Heidegger und die deutsche Existenzphilosophie zum französischen Existentialismus eines Jean-Paul-Sartre führte, andererseits entscheidende Impulse Derridas Dekonstruktivismus verlieh, der zum Ausgangspunkt neuerer Ideologien wie Genderismus, Postkolonialismus und Identitätsphilosophie wurde, verdankte Edith Stein Husserls Gegenpol in der Phänomenologie, Max Scheler, in dessen Zentrum die Person steht, deren Urgrund der Philosoph in der Liebe entdeckte, doch sehr viel. Alle Akte der Person sah Scheler in der Liebe begründet. Aus diesem Grund konnte er schlussfolgern, dass das Wesen der Person nicht Vernunft, sondern Liebe sei.

Nicht nur Edith Stein erfuhr eine starke Anregung aus Schelers Personalismus, sondern zweitens auch Karol Wojtyła, der sich 1953 mit der Arbeit „Beurteilung der Rekonstruktionsmöglichkeiten einer christlichen Ethik auf der Basis der Voraussetzungen des ethischen Systems von Max Scheler“ habilitierte. Drittens erfüllte Johannes Paul II. ein tiefer Respekt für das Judentum, die er als die „älteren Brüdern im Glauben“ ansprach. In Edith Stein, die in einer jüdischen Familie in Breslau geboren wurde, die zum Katholizismus konvertierte, den Schleier nahm und die schließlich die Nationalsozialisten am 9. August 1942 in Auschwitz wegen ihrer jüdischen Herkunft ermordeten, dürfte Karol Wojtyła eine Brückenbauerin zwischen Judentum und Christentum gesehen haben, eine Märtyrerin und Heilige war sie für ihn ohnehin. Man kann also sagen, dass mit dem Vortrag von Roman Ingarden in Krakau der Prozess begann, der am 1. Mai 1987 mit der Seligsprechung und schließlich am 11. Oktober 1998 mit der Heiligsprechung Edith Steins endete.

Ingarden nun, der ihrer Konversion und ihrem Eintritt ins Kloster kritisch gegenüberstand, sorgte sich um ihr philosophisches Erbe: „Auch die Veröffentlichungen über Edith Stein, die ihrer Biographie und der Tatsache ihrer Konversion zum Katholizismus gewidmet sind, lassen ihren früheren wissenschaftlichen Ertrag ganz und gar beiseite, so als ob er nicht existierte. Meines Erachtens wurde Edith Stein dadurch ein Unrecht angetan. Sie war Philosophin, Wissenschaftlerin, und ist es auch im Kloster geblieben. Auch unter schwierigen Bedingungen hat sie ihre wissenschaftliche Arbeit weitergeführt.“ Seit Ingardens Vortrag wurde und wird das philosophische Erbe vorbildlich entdeckt.

Noch zu wenig wird gesehen, dass von der Philosophie Edmund Husserls zwei große Wege weiterführten, einerseits Heideggers Existenzphilosophie, anderseits Edith Steins phänomenologischer Neuthomismus oder Welteinheitsdenken, wobei die Einheit im Schöpfer der Schöpfung begründet ist. Während Martin Heidegger den Menschen als ein in sein Leben Geworfenen betrachtet, fragt Stein nach dem Werfer, der für sie der Schöpfer ist und mithin der Mensch ein Geschöpf. Es geht ihr schließlich nicht um die Geworfenheit, sondern um die Geschöpflichkeit, nicht um die Ausweglosigkeit der Zeit als Sinn des Seins, also für den Menschen als Sinn des Lebens, sondern um die Ewigkeit, weshalb der Sinn des Lebens, der Aufstieg zum Sinn des Seins in der Erlösung besteht, die dem Menschen als Geschöpf von Anfang an gegeben ist: das Reich nicht von dieser Welt.

Das Leben besteht für Stein nicht wie für Heidegger in der Sorge vor dem Tod, in der Besorgnis, sondern in der Überwindung des Todes. Die Voraussetzung hierfür ist durch die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gegeben. In dem Axiom, dass „jeder Mensch … ein Gottsucher und darin am stärksten dem Ewigen verbunden“ ist, findet sich die fundamentale Vorstellung ihre Philosophie. „In allem Schönen und Guten, was der Mensch in sich und um sich findet, ahnt er ein Höchstes über sich und allem und fühlt sich angetrieben, es zu suchen und ihm zu dienen.“

Steins Philosophie ist ein Weg des Denkens, den sie im Studium in Breslau beginnt, der sie nach Göttingen zu Edmund Husserl und zur Phänomenologie führt. Was sie an Husserls Denken begeistert, ist der Weg fort von der Erkenntnistheorie zur Wirklichkeit hin, „zu den Sachen“, wie der Schlachtruf der Phänomenologen in jenen frühen Jahren lautet.

Husserls Grundidee besteht darin, dass die Wirklichkeit dem Menschen als Phänomene gegeben ist, die er durch besondere philosophische Verfahren von allen Überlagerungen und Überwucherungen befreien muss, damit er sie in der Reinheit, wie sie ihm ins Bewusstsein gegeben werden, erkennen kann. Gewissermaßen ist die Phänomenologie eher eine Methode, denn eine Philosophie, deren Letztbegründung Heidegger im Menschen und Stein in Gott sucht. Husserls Anspruch, „Wissenschaft von der Wissenschaft zu sein“ beflügelt Edith Stein, die immer stärker erkennt, dass sie die Frage nach der Person, danach, was der Mensch ist und welche Möglichkeiten er besitzt, antreibt.

In einem Brief an Roman Ingarden schrieb sie am 15. Oktober 21: „Meine Arbeiten sind immer nur Niederschläge dessen, was mich im Leben beschäftigt hat, weil ich nun mal so konstruiert bin, dass ich reflektieren muss.“ Die Veranlagung vom Ich, vom eigenen Erfahren auszugehen, führte sie zur Phänomenologie, doch die Frage, worin letztlich das Menschsein besteht, worin unsere Existenz besteht zu Gott.

In den Zwanziger Jahren arbeitete sie zunächst als Lehrerin, später als Dozentin, vor allem aber kam sie durch die Übersetzung des Descartes Buches von Alexandré Koyré mit dem Neuthomismus in Berührung. Diese Begegnung intensiviert sich, als sie Thomas von Aquino ins Deutsche bringt. Die Vorstellung von der Einheit der Welt in ihrer Vielheit, die ihren Grund in der Schöpferkraft Gottes findet, findet ihren ersten Niederschlag in der Arbeit „Potenz und Akt“. Die Phänomenologie wurde ihr zur Methode, um den Thomismus zu dynamisieren, ihn aktuell zu interpretieren und zu erweitern. Im Kloster wird aus der Überarbeitung von „Potenz und Akt“ ihr philosophisches Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins“.

Indem sie alles zu Gottes Werk erklärte, quasi Gott zur Voraussetzung ihrer Philosophie machte, hatte Edith Stein der Phänomenologie oder besser dem phänomenologischen Neothomismus eine Letztbegründung ermöglicht. Mit den Mitteln der Phänomenologie schuf sie eine Summa des Sinns des Lebens als christliches Leben.

Als die Gestapo am 2. August 1942 an der Tür des Karmels klopfte, um sie nach Auschwitz zu verschleppen, hatte mit dem zutiefst persönlichen, zutiefst mystischen Werk „Kreuzeswissenschaft“ ihr Denken einen Abschluss gefunden. Da aber dem Ende im Denken produktiver Philosophen stets ein Anfang innewohnt, verrät uns nichts, wohin und wie sich Edith Steins Denken weiterentwickelt hätte. So wurde sie mitten aus dem Denken gerissen.

Dieser Beitrag von Dr. Klaus-Rüdiger Mai erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme. Jetzt drei Ausgaben kostenlos testen: Die Tagespost-Probeabo.

Klaus-Rüdiger Mai, Edith Stein – Geschichte einer Ankunft. Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen. Kösel Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 22,00 €

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