
Erdrückendes Täterwissen, keinerlei Reue und folgerichtig lebenslange Haft: Am 11. April, vor gut zwei Wochen, sprach das Landgericht in Mainz ein afghanisches Ehepaar schuldig. Hassan und Maryam M. sollen ihre 15-jährige Tochter Ronja in Pirmasens in ihrer Wohnung mit Tramadol-Tabletten betäubt haben, mit ihr zum Rheinufer ins 100 Kilometer entfernte Worms gefahren sein, sie mit einem Schal bis zur Bewusstlosigkeit erdrosselt und anschließend in den Fluss geworfen haben. Die Richter sprachen die Eltern auch aufgrund der erdrückenden Beweislast schuldig.Dass Ronja, die eigentlich Roqia heißt, aber in Deutschland den abgewandelten Namen nutzte, sterben musste, lag dem Vernehmen nach an ihrem Lebenswandel. Demnach soll sie sich einem westlichen Lebensstil zugewandt und einen älteren Freund getroffen haben, der, wie es heißt, vor allem dem Vater nicht gepasst haben soll. Eine Freundin sagte zudem vor Gericht aus, dass Ronjas Lebensstil schon zuvor dazu geführt hatte, dass Mutter und Vater sie schlugen und einsperrten. Später hieß es zwar, dass die Eltern mit der Tochter überfordert seien und in ihr einen „Sündenbock“ sahen, um sie schließlich aus „egoistischen Gründen“ zu töten. Dies mag richtig sein, klammert aber kulturelle Gründe gänzlich aus, die sich womöglich mit persönlichen Motiven verschränken.Dabei gab es für jenes Phänomen, bei dem der Lebensstil von Frauen im Konflikt mit den Ansichten archaisch-muslimischer Familien steht, eigentlich einen Begriff: den Ehrenmord, angelehnt an die Ehre der Familie, die angeblich wiederhergestellt werden soll, wenn Töchter, Schwestern oder Cousinen sich westliche Partner suchen, zu viel ausgehen, Alkohol oder Drogen konsumieren, sich vom Islam lossagen oder sexuell selbstbestimmt leben.In der Berichterstattung zur Tötung Ronjas und dem anschließenden Gerichtsprozess fiel dieser Begriff jedoch nicht. Stattdessen wurde immer wieder ein anderer Begriff genutzt: der Femizid, eine Mischvokabel aus der Weiblichkeits-Vorsilbe „Fem-“ und dem Suffix „-zid“ (wie man es aus Wörtern wie Suizid oder Genozid kennt). Der Begriff geht auf die Autorin Diane E. H. Russell zurück, welche den Begriff bereits 1976 formulierte, um damit alle Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu subsumieren.Gerade in den vergangenen Jahren hat der Begriff „Femizid“ einen kometenhaften Aufstieg erlebt. Er wird von ARD und ZDF, Deutschlandfunk, Anja Reschke, dem Spiegel sowie Social-Media-Aktivisten genutzt. Auf Instagram finden sich Hunderte Beiträge von Leitmedien und Influencern, die sich den Begriff angeeignet haben und ihn im Sprachgebrauch verwenden.Der SWR selbst schrieb zum Fall Ronja, dass das tot im Rhein aufgefundene Mädchen ein „Opfer von Femizid“ geworden sei.
Der Titel des SWR.
Der Aufstieg des „Femizid“ – und das gleichzeitige Verschwinden des „Ehrenmords“ – verrät viel über die Postmoderne und die Ideologie, die in die Sprache Einzug hält. Man erinnere sich nur zurück: Im Jahr 2005 wurde Hatun Sürücü von ihren Brüdern in Berlin ermordet, weil sie beschloss, ihren Ehemann zu verlassen, was gegen die Wertevorstellungen ihrer türkischen Familie verstieß.
Im Nachgang des Ehrenmords an Sürücü wurde „Vergesst niemals Hatun!“ zum Leitmotto einer Kampagne gegen Ehrenmorde beim Internationalen Frauentag 2006 in Köln. Der Fall wurde 2010 im Film „Die Fremde“ verfilmt, in Berlin wurde ein Gedenkstein errichtet; das Thema der Ehrvorstellungen, Zwangsheiraten und Ehrenmorde hielt Einzug in den Berliner Schulunterricht, in Sportvereine und Moscheen.
2007 schrieb die Islamkritikerin Seyran Ateş im Tagesspiegel: „Migranten tun zu wenig gegen Ehrenmorde.“ Es folgten Fälle wie der von Erol P. in Mönchengladbach, der seine Tochter und seine Frau auf offener Straße erschoss, oder Sazan Bajez-Abdullah, eine Frau, die von einem Iraker lebendig verbrannt wurde. Heute kennen die wenigsten diese Fälle, aber das Thema war einst virulent und Gegenstand erhitzter gesellschaftlicher Debatten – auch, weil es ein ernsthaftes Problem für die Freiheit von Frauen darstellte.
Rund 20 Jahre später ist das Land migrantischer geworden. Waren im Jahr 2000 nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung nicht-deutsch, sind es heute rund 18 Prozent. Sieht man sich zudem die Geburtsraten und Einwanderungsstatistiken der vergangenen zehn Jahre an, ahnt man: Das Land ist muslimischer geworden.
Heute leben etwa 5,5 Millionen Muslime in Deutschland; viele von ihnen kommen aus archaischen Ländern, in denen Gewalt gegen Frauen weit verbreitet ist. Das Problem jener kulturspezifischen und religiösen Gewalt – beginnend bei Zwangsheirat und Kinderkopftüchern, über Genitalbeschneidung bis hin zu Ehrenmorden – dürfte also keineswegs kleiner geworden sein. Dennoch spricht heute gefühlt niemand mehr von Ehrenmorden. Warum?
Ob verletzte Ehre ausschlaggebend für die Tötung der Frau in Espenkamp war, ist ungewiss, doch vieles spricht dafür. Dass der Täter sich unmittelbar nach der Tat selbst der Polizei stellte, erinnert an den Fall von Ronja, bei dem die Mutter die Polizei informierte. Oder an den Fall aus Bremen-Walle im November 2023, als ein 24-jähriger Somalier seine Schwester wegen deren westlichem Lebensstil erstach – und im Anschluss den Notruf wählte, um sich von Polizeibeamten widerstandslos festnehmen zu lassen.