Ein Stadtbild wie der Unterarm von Heidi Reichinnek

vor 23 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Berlins Landesregierung beendet den Bau sogenannter Kiezblocks. Jedenfalls vorläufig. Auch für die Errichtung neuer Parklets stehen die Aussichten schlecht. Wer dort lebt oder dort ab und an auch Quartiere etwas abseits vom Zentrum besucht, weiß womöglich gar nicht, um welche Beiträge zur zeitgenössischen Stadtarchitektur es hier geht. Zu den Parklets, aber auch zu einigen Kiezblocks gehören erstens Sperrholzkästen, die ganz am Anfang, wenn die meisten grünen Bezirkspolitiker zur Einweihung vorbeischauen, Erde und vereinzelte Pflanzen enthalten. Ein paar Wochen später ersetzt der Lauf des Metropolenlebens beides durch einen Querschnitt aller Materialien, die sich auf dem Fußweg einer durchschnittlichen zentrumsfernen Berliner Straße finden.

Diese Füllmasse bleibt dann dauerhaft. Die Kästen kommen in Kombination mit hölzernen Paletten vor, auf denen die Berliner nach dem Willen der Konstrukteure ein mediterranes Leben nachstellen sollen. Kiezblocks wiederum bestehen aus dicht gesetzten Pollern (und Kästen); sie erinnern in ihrer Platzierung an nach 1945 versehentlich nicht abgebaute und irgendwann wieder frisch überpinselte Panzersperren.

Die Erwartung an ein mediterranes sommerliches Parkletleben erfüllten sich nicht so recht, und das nicht nur, weil es sich vom märkischen Sand zum Mittelmeer etwas zieht. Die Parkletsitze verhalten sich zu den weißen Stühlen eines italienischen Straßencafés ungefähr so wie der Platz am Kottbusser Tor zur Piazza Navona. Auch die kulturelle Differenz zwischen den jeweiligen Benutzern hier und da lässt sich nur schwer überbrücken. Jedenfalls nicht mit Sperrholz. Der Zweck der Holzpaletten und -kästen besteht in erster Linie darin, Parkplätze verschwinden zu lassen, während die Pollerverhaue den Autoverkehr innerhalb von Wohnvierteln weitgehend verhindern sollen, also auch den Liefer- und Serviceverkehr. Die Besatzung von Krankenwagen muss mit einem speziellen Schlüssel Poller umlegen, um durchzukommen, was die Anfahrt zu einem gewissen Nervenkitzel für Notfallpatienten macht.

Die Errichtung dieser Sperren zählt zu den Kernprojekten der Hauptstadtgrünen. Für die Parklet-Sitzgelegenheiten werben die zuständigen Stadtplaner mit dem Nebenargument, dort könnten Bewohner ohne Konsumzwang an der Straße sitzen („Parklets sind Orte der Begegnung, für alle, im öffentlichen Raum und ohne Konsumzwang – hier muss man keinen Kaffee bestellen, um etwas Zeit an der frischen Luft verbringen zu können“).

Das heißt, Parkletkunden konsumieren durchaus, wenn auch in der Regel Mit- und von mobilem Chemievertriebspersonal Vorbeigebrachtes. Dass ein Zusammenhang zwischen gewinnorientierten und deshalb einigermaßen sauberen Straßencafés auf der einen und kommunalen Bretterverschlägen ohne Kellner und Toiletten und dem damit verbundenen Ambiente anderseits herrscht, halten progressive Hauptstadtpolitiker für reine Verschwörungstheorie.

Kiezblocks kosten in der Regel einen sechsstelligen Betrag. Parklets bisweilen noch mehr, auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Dass die einzige von den Grünen befürwortete und sogar geförderte Bautätigkeit in Berlin nun womöglich endet, trifft also erstens einen mittelgroßen und politisch gut vernetzten Wirtschaftszweig, der auf die Errichtung von noch mindestens einem Dutzend Durchfahrtsperren allein in Mitte rechnete. Außerdem natürlich die Mandatsträger selbst. Die Meldung schaffte es sogar in die Tagesschau.

Grüne Verkehrspolitiker Berlins wie Oda Hassepaß und ihre Unterstützer beklagen, die Weigerung des Senats, weitere Steuergeldmillionen in panzersperrenähnliche Konstruktionen und Holzpaletten zu stecken, würde sich gegen die Bürger richten, die sich genau diese Art von Stadtgestaltung wünschten. Es gibt zwar Anhänger von Pollerbü über den Kreis der Profiteure und ihres Vertriebspersonals hinaus. Nur eben nicht besonders viele. Gegen manche Schutzwälle zogen die Bewohner der betroffenen Viertel sogar vor Gericht, vor allem Ladeninhaber und generell Leute, die nicht von zu Hause aus arbeiten können, andererseits den Berliner Verkehrsbetrieben mit Vorurteilen begegnen.

Verkehrswende, Volkswille innerhalb einiger grüner Straßenzüge und Kampf gegen geregelten Konsum bilden allerdings wie schon erwähnt nur Nebenverteidigungslinien. Als obersten und alles überwölbenden Grund dafür, dass der Block-und-Palettenausbau nicht stocken darf, nennen Oda Hassepaß und ihre Unterstützer etwas anderes: Schönheit. Sie empfinden diese architektonischen Beiträge eindeutig als Aufwertung und Verbesserung der Stadt, weshalb sich für sie die Frage der Kosten gar nicht erst stellt.

Sollten andere das anders sehen, dann also aus Angst vor einer schönen Stadt. Dieses Phänomen beherrscht Berlin nun wirklich schon seit Jahrzehnten, ja möglicherweise sogar schon seit jemand die ersten Baupfähle in den Spreesumpf setzte. In jeder Gesellschaft existieren, um es einmal so neutral wie möglich zu sagen, unterschiedliche Schönheitsvorstellungen. Das stellt an sich noch kein Problem dar. Nur bestimmen eben Personen wie Frau Hassepaß die Anmutung großer Städte – und das nicht nur in Berlin – sehr viel stärker als Bürger, die Holzsitzpaletten am Straßenrand für staatlich antransportiertes Gerümpel halten, ganz im Sinne des famosen Berliner Autors Thomas Kapielski: „Müll hochbringen“.

Die Wendung „Die Geschmäcker sind halt verschieden“ gibt keine befriedigende Auskunft darüber, warum manche davon zu einem inoffiziellen Staatsdesign aufsteigen, zwar nicht in oberbayrischen Dörfern, aber in Metropolen, wo ein ganz bestimmter Gestaltungswille auf kübelweise öffentliches Geld trifft. Der Berliner Baustopp in dieser kleinen Sparte – falls es überhaupt dabei bleiben sollte, denn mit genügend Empörung, organisiertem Aufstampfen und Tagesschauhilfe geht es ja doch meist weiter – bedeutet noch lange nicht, dass sich auf dem Gebiet der großen Stadttransformation nun gar nichts mehr täte.

Jede Epoche bringt ihren Stil hervor. Draußen vor der Stadt, wo Friedrich II. sich bevorzugt aufhielt, hinterließ er der Nachwelt Sanssouci, ein vorbildlich durchgrüntes, elegant bebautes Gelände mit Bildwerken, in denen progressive Fuchtelfrauen heute vermutlich wahlweise maskuline, feminine oder rassistische Stereotype verwirklicht sehen.

Damals und später benörgelten Kritiker die Übernahme des französischen Stils als epigonal. Das stimmt, nur bewirkte genau diese Adaption im Sand- und Kartoffelackerland eine gewaltige ästhetische Erhebung und Verbesserung, der auch viele kleinere Bauherren nacheiferten. Das lässt sich heute noch an einigen Barockpalais in Potsdam und Berlin ablesen, aber auch an später entstandenen Bürgerhäusern, die Wetter, Krieg und östliche Verrottungspolitik erstaunlich robust überstanden. Als Zeugnis späterer Zeiten findet der aufmerksame Spaziergänger außerdem Jugendstil, Art déco und Kranzlereck-Moderne. Und eben auch Sperrholzverhaue und andere Herrschafts- und Repräsentationsbauten, die Auskunft über ihre Entstehungszeit geben.

Angenommen, es käme irgendwann einmal alles Schicht um Schicht in die Horizontale, dann würden Archäologen in tausend Jahren unter den stählernen Kiezblockresten Weltkriegspanzerfäuste, als nächstes Gründerzeitputten und darunter wieder Marmorfriese aus Friedrichs Zeiten ausgraben und mutmaßen, dass auf die Panzerfaustära eine Epoche von Verarmung und schlagartigem Niedergang folgte. Die Schlussfolgerung liegt nah, aber sie könnte falscher nicht sein. Schon jetzt behaupten viele Denkfaule, die Verhässlichung der Großstädte sei ein Armutsphänomen. Sie sollten sich gelegentlich anschauen, wo die Einkommenssteuersätze unter dem Preußenkönig lagen, wo unter den beiden Wilhelms, und was der Staat in Zeiten des Friedrich Merz von seinen Bürgern nimmt. Unter den Bedingungen des Miquel’schen Steuersystems mit einem Spitzensteuersatz von vier Prozent entstanden um die vorletzte Jahrhundertwende in Berlin palastähnliche U-Bahnstationen, offen für jeden, der sich ein Billett kaufte.

Gemessen an der Nutzfläche kostete die 2022 am Kottbusser Tor eingeweihte m/w/d-Toilette mit Regenbogenstreifen proportional mehr als die 1902 eröffnete U-Bahnstation Wittenbergplatz, nämlich – nach fünf Jahren Planungszeit – 56.000 Euro plus jährliche Pflege- und Reinigungskosten von weiteren 65.000 Euro. Nach drei Jahren steht die Toilette berlintypisch hinter einem Schutzzaun, da der grün regierte Stadtbezirk das Rattenproblem des Örtchens nicht in den Griff bekommt.

Der Maschendrahtzaun hält natürlich nicht die Nagetiere auf, aber immerhin potentielle menschliche Benutzer, die sich durch den Zustand vor der Einzäunung noch nicht ausreichend abschrecken lassen. Zurzeit ist die Zukunft des Dreitürenhauses so offen wie die der Kiezblocks. Die CDU in der Bezirksversammlung Kreuzberg-Friedrichshain verlangt den Abriss der Toilettenruine. Damit dürfte ihr Fortbestand gesichert sein. Möglicherweise erneuert der Stadtbezirk irgendwann den Schutzzaun.

Überhaupt: Wenn es so etwas wie eine Signatur in dieser nicht zufälligen, sondern sehr gewollten Stadtentwicklung gibt, dann der ewige Bau- und Absperrmaschendraht, das zeitgenössische Stadtmöbel schlechthin, auf dem sich immerhin niemand mehr niederlassen kann.

Auch in diesem sogenannten Fahrradtresen mit Beistellmöbeln in Kreuzberg-Friedrichshain steckt durchaus Geld, wenn auch nicht ganz so viel wie in der anderen Bedürfnisanstalt.

Nach kurzer Zeit bedeckt ein einheitliches Smegma aus eingetrockneten Flüssigkeiten, Aufklebern und gesprayten Bekenntnissen alle Gestaltungselemente dieser Art. Das gilt auch für die begrünten Mulden aka Pfützen mit nebenstehendem Sperrholzdekor, die demnächst an der Schlesischen Straße entstehen (das Datum bitte ignorieren, es herrscht leichter Terminverzug).

Von finsteren Epochen wie dem friderizianischen Preußen, dem Kaiserreich und der alten Bundesrepublik unterscheidet sich die Gegenwart dadurch, dass ihre Funktionselite nicht nur soziale, sondern auch rastlos immer neue ästhetische Brennpunkte schafft. Dafür nimmt sie, wie es in der Sperrmüllrhetorik dieses Personals heißt, richtig Geld in die Hand. Die vorübergehende Vermüllung der Friedrichstraße mit einem Geraffel an Holzkonstruktionen, Bauzäunen, Schildern und Markierungen auf dem Asphalt unter der grünen Bausenatorin Bettina Jarasch kostete das Land Berlin, also vorwiegend süddeutsche Steuerzahler inklusive Abbau nach Anwohnerprotesten 2.818.291,70 Euro, wovon 156.200 Euro auf die Holzsitze und -tische entfielen. Der zentrale Punkt lag auch hier nicht darin, einer ehemals wichtigen Berliner Geschäftsstraße die Anmutung einer Dauerbaustelle zu geben. Sondern darin, dass Jarasch und andere erklärten, genau so müsse eine Flaniermeile beziehungsweise, wie die Senatorin sich ausdrückte, eine Piazza aussehen.

Für die sogenannte Sanierung des Gendarmenmarkts gab die Stadt insgesamt 21 Millionen Euro aus, also für die Verwandlung der 14.000 Quadratmeter des ehemals schönsten Berliner Platzes in eine pflanzenlose Steinfläche mit Rastermuster, die auch der Vorfläche eines AOK-Verwaltungsgebäudes in NRW alle Ehre machen würde.

Auf der dazugehörigen Webseite – mit Genderstern und allem Drum und Dran erklärte die schon erwähnte Bettine Jarasch die Maßnahme so: „Wir werden unsere Innenstädte für den Klimawandel rüsten – auch unsere historischen Zentren. Mit den nun startenden Umbauten kommt ein Stück Schwammstadt nach Mitte zum geschichtsträchtigen Kulturort am Gendarmenmarkt. Das ist eine gute Blaupause für weitere klimaresiliente Umgestaltungsmaßnahmen in der Stadt. Wir werden Plätze künftig generell so gestalten, dass das Regenwassermanagement vor Ort funktioniert.“
 In der dunklen Epoche sah der Platz übrigens so aus:

Regenwasserversickerungsmanagement betrieb man damals durch die Anlage größerer Beete, Rasenflächen und der Pflanzung von Bäumen mit aufgelockertem Erdreich ringsum. Es gab dank der Bäume schattige Stellen; im Vordergrund des Bildes erkennt man außerdem eine Toilette, die mutmaßlich nicht beziehungsweise nicht ausschließlich von Nagetieren frequentiert wurde. Dafür fehlten unverzeihlicherweise die Regenbogenstreifen. Der ganze Platz zeigte sich damals eben einfach nicht fit für die Zukunft, wie es auf der oben zitierten Webseite heute für die 21-Millionen-Euro-Brache heißt.

Wer verstehen will, warum Städte heute so viel anders als damals aussehen, muss sich nicht nur von der völlig abwegigen Vorstellung freimachen, es fehle heute im Gegensatz zu früher an Geld. Sondern ebenfalls von der Idee, die Umbauten in der Gegenwart hätten auch nur das Geringste mit Ökologie beziehungsweise echter Durchgrünung zu schaffen. Forderungen nach mehr öffentlichem Grün kommen natürlich in jedem Politikerleitartikel respektive jeder Journalistenrede vor. Sehr viele Grünanlagen in Berlin und nicht nur dort bieten ein etwas anderes Bild, was die Wertschätzung realexistierender Parks betrifft, nämlich das hier:

Wer verstehen will, warum in Großstädten heute ganze Stadtviertel aussehen wie die Unterarme von Heidi Reichinnek, und das eben nicht durch Verfall, sondern durch Bautätigkeit, der darf nicht bei der erstbesten Theorie stehenbleiben, sondern muss auch nach den Gründen unter dem Offensichtlichen suchen. Es liegt also eher an einem schädlichen Geldüberfluss in den öffentlichen Kassen – aber das allein erklärt noch gar nichts. Das Schöne entsteht nie ohne eine Idee des Schönen. Für die Hässlichkeit gilt das genauso. Selbst mit allen Mitteln der Welt brächten Stadtverunstalter wie Jarasch et al. keinen schönen oder auch nur ansehnlichen Platz zustande, weil sie die Kriterien dafür nicht erkennen, selbst wenn sie ihnen jemand mit Engelszungen nahebrächte.

Eine schöne Piazza, wie man sie in Italien dutzendfach findet, ein schöner Marktplatz einer süddeutschen Stadt – nichts davon entstand je aus einem Plan, sondern aus einem kulturellen Bewusstsein, das sich nicht nur in einer Generation herausbildete. In dem Wort „Erbauung“ liegt auch der Sinn, dass eine schöne Umgebung auf die Menschen darin zurückwirkt, was leider auch unter negativem Vorzeichen funktioniert. Es gab wahrscheinlich zu allen Zeiten Leute, die über kein besonderes kulturelles Bewusstsein verfügten oder dergleichen für unwichtig hielten und halten. Aber sie sammelten sich so gut wie nie in überdurchschnittlicher Stärke an allen Schaltstellen eines Landes. Dass sich dort heute Ästhetikblinde dicht an dicht drängen, gehört wirklich zur neuen Entwicklung.

Eine Abneigung gegen gewachsene und erprobte Formen kommt wiederum nicht überraschend für ein Milieu, in dem man alle früheren Epochen für mehr oder weniger finster, patriarchalisch, kolonialistisch und verbrecherisch und jeden positiven Geschichtsbezug für verdächtig hält. Es gehört alles zusammen: Formlosigkeit schon im eigenen Auftritt, Hybris, Ressentiment gegenüber der Vergangenheit gerade wegen der Ahnung, dass dieses Gestern meist in unerreichbarer Weise besser aussah, außerdem viel Geld und Entscheidungsgewalt, dazu die Möglichkeit, Kritikern gar nicht erst argumentativ begegnen zu müssen. Aus diesen Grundelementen entstehen verschiedene, aber untereinander ziemlich ähnliche Mischungen, in denen mal diese, mal jene Eigenschaft überwiegt.

Wenn die frühere Bundestagspräsidentin und neue Arbeitsministerin Bärbel Bas in blaukariertem Sackjackett mit rotem Rollkragenpullover repräsentiert, dann fällt das in die Kategorie der völligen Formenblindheit, kombiniert mit einer Wurstigkeit gegenüber dem Staat, mit dem diese Leute in Wirklichkeit nichts mehr anfangen können, auch wenn sie sich unentwegt auf ihn berufen.

Bei den Kiezblocks und Paletten handelt es sich um die Nachfolger der Zwingburgen, die Feudalherren in wirklich noch etwas düsteren Zeiten hoch über tributpflichtigen Bürgerstädten errichteten, also um einen gebauten Herrschaftsanspruch, bezahlt wie damals aus dem abgepressten Zehnten. Allerdings hingen und standen in diesen Burgen meist auch passable und oft sogar exzellente Kunstwerke. Wenn Gestalter den Gendarmenmarkt mit grauem Stein teuer veröden, die Kopie einer antiken Statue wegen zu viel Nacktheit aus einem Bundesamt entfernen, Denkmale des 19. Jahrhunderts schleifen und das Berliner Stadtschloss am liebsten wieder abreißen würden, dann bricht sich der Hass gegen das Gelungene Bahn, so, als wollten sie unbedingt den Satz von Karl Kraus bestätigen: „Die Hässlichkeit der Jetztzeit hat rückwirkende Kraft.“

All das gehört wie gesagt zusammen. Eine Stadt ist immer auch ein begehbares Gesellschaftsmodell. Man muss nicht nur historische Fassaden, verlorene Stadtansichten und alte Steuertabellen studieren, sondern auch Fotografien der damals tonangebenden Schicht, man muss die Parlamentsreden nachlesen und die Literatur der Zeit: Es passte alles einigermaßen und im weitesten Sinn zusammen. Die Gründerzeitbauten stammen nicht nur aus dem Kaiserreich. Sie standen auch dafür. So, wie die Parklets, die Bundestagsreden, die äußere Erscheinung der allermeisten Funktionsträger, die Steuersätze und die ganz zeitgenössischen Kulturbauten sich zu einem weitgehend in sich harmonischen Bild fügen. Das Toilettenhaus am Kotti gehört ohne jeden Zweifel zu den Repräsentationsbauten Berlins und auch des Gesamtlandes, gerade in seiner umzäunten Ausführung.

Natürlich findet jeder mit nur geringen historischen Kenntnissen Zeitkritik in gewaltigen Mengen an Putten und Ornamenten, gerade bei Karl Kraus und Adolf Loos, dazu Spott über Zeitungsphrasen, Kritik an der Literatur und überhaupt am Stil beider Kaiserreiche, Hohn in Kübeln über hohe Häupter, die damals allerdings nur höchst selten zum Staatsanwalt rannten. Ja, ja, gab es alles. Alles bekannt, auch dem Autor dieses Textes. Samt und sonders archiviert. Aber kein Karl Kraus und kein Loos und kein Wedekind und kein Torberg konnte diese ästhetische Totalentkernung der Gegenwart absehen oder wenigstens schemenhaft vorahnen. Und wenn, sie hätten den Ornamenten ihrer Zeit von Herzen ein langes Leben gewünscht.

Der tiefste Grund der Staatshässlichkeit findet sich noch eine Stufe unter all den aufgezählten anderen Gründen, ohne etwas davon zurückzunehmen. In der Tiefe deshalb, weil diese Veränderung wegen ihrer Ausmaße dem Blick der meisten Zeitgenossen entgeht. Damit einigermaßen harmonische Lebenswelten entstehen, braucht es eine von möglichst Vielen geteilte Vorstellung, was man als harmonisch, schön oder zumindest erträglich ansieht. Diese Vorstellung wiederum ergibt sich nicht von selbst, sie entsteht nur aus dem Grundgefühl der Bürger, dass es sich um ihre Stadt und ihr Land handelt. Das Gelungene braucht immer einen Ort, an den Menschen sich freiwillig binden wollen. Das ungefähr schrieb der Historiker Jörg Baberowski 2025 in einem Essay 2015 in der FAZ:

„Die Integration von mehreren Millionen Menschen in nur kurzer Zeit unterbricht den Überlieferungszusammenhang, in dem wir stehen und der einer Gesellschaft Halt gibt und Konsistenz verleiht. Wenn uns mit vielen Menschen nichts mehr verbindet, wenn wir einander nichts mehr zu sagen haben, weil wir gar nicht verstehen, aus welcher Welt der andere kommt und worin dessen Sicht auf die Welt wurzelt, dann gibt es auch kein Fundament mehr, das uns zum Einverständnis über das Selbstverständliche ermächtigt. Gemeinsam Erlebtes, Gelesenes und Gesehenes – das war der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft einmal zusammengehalten hat.“

Worauf damals ein Sturm der Entrüstung im akademischen Milieu über Baberowski hereinbrach. In der Erwiderung des Historikers Andreas Frings, hier stellvertretend für viele andere zitiert, hieß es:

„Woher weiß Baberowski eigentlich, dass eine Gesellschaft diesen Zusammenhang braucht? […] Was verbindet heute eigentlich die Kassiererin von Schlecker mit dem Risiko-Controller der Deutschen Bank? Diese Frage soll keine Klischees bedienen, sondern nur deutlich machen, dass der ‚Überlieferungszusammenhang‘, sonst auch als ‚Leitkultur‘, als ‚Sinnzusammenhang‘ und ähnliches angesprochen, gar nicht nötig ist, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten.“

Was das Ganze dann zusammenhält, dazu äußerte sich Frings nicht. Jedenfalls: Ein Land nach diesem Muster kann nicht nur keine gemeinsame Ästhetik hervorbringen. Es braucht auch keine mehr. Dann steht alles bereit für die Aufteilung in Zonen: hier Sperrholz und Pfähle im Asphalt, dort Stadtquartiere ohne Durchfahrtsblockaden, weil die Bewohner Automobile außerordentlich schätzen und auch sonst vom deutschen Staat nicht belästigt werden möchten, dazwischen Wohngegenden, aus denen sich jeder entfernt, sobald er kann, so, wie er öffentliche Verkehrsmittel und am besten die ganze Metropole meidet, die selbst ihre ehemals schönen zentralen Plätze verhunzt.

Dieser Tage ging die Klagemeldung über den schlechten Zustand des Wir-Gefühls durch mehrere Medien.

Das steht in einem gewissen Widerspruch zu der Behauptung, so etwas sei gar nicht nötig, und wer davon rede, der entlarve sich als dunkelzeitiger Reaktionär. Aber mittlerweile rücken gewisse Entwicklungen selbst Leuten in gentrifizierten Vierteln näher, die vor zehn Jahren noch fröhlich krähten: ‚Wir-Gefühl, Überlieferungszusammenhang, brauchen wir nicht, ab aus dem weißlackierten Gründerzeitfenster damit.‘

Vielleicht vergehen bei den Berufsbegriffsstutzigen noch einmal zehn Jahre, bis sie verstehen, dass das, was sie dann nun plötzlich doch für ein bisschen nötig halten, sich aber nicht mehr zusammensetzen lässt, wenn es einmal in Trümmern liegt. Dann hilft es auch nichts, einen Maschendrahtzaun um die Reste zu stellen. Weg ist weg.
 Sie sollten also welche Instanz auch immer inständig darum bitten, dass es ihnen 2035 in ihrer Wohngegend noch gefällt.

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