„Eine einfache Antwort: Ja.“ Der Moment, in dem Friedrich Merz der Union eine Zerreißprobe bescherte

vor etwa 22 Stunden

Blog Image
Bildquelle: NiUS

Mit einem lapidaren „Ja!“ auf eine heikle Frage hat Bundeskanzler Friedrich Merz seinen Abschied von den christlichen Grundwerten seiner Partei verkündet und die Union damit vor eine Zerreißprobe gestellt. Wie konnte es dazu kommen?

Es ist 13.54 Uhr am 9. Juli 2025, die 17. Sitzung des Bundestages in der laufenden Legislaturperiode, als die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch sich mit einer Nachfrage an Bundeskanzler Friedrich Merz wendet:

„Ich frage Sie, ob Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, Frau Brosius-Gersdorf zu wählen, für die die Würde eines Menschen nicht gilt, wenn er nicht geboren ist. Frau Brosius-Gersdorf hat gesagt, dass einem Kind, das neun Monate alt ist, zwei Minuten vor der Geburt keine Menschenwürde zukommt. Können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, diese Frau zu wählen – wissend, dass vermutlich diese Dame in Kürze über die Abschaffung des § 218 abstimmen wird?“

Beatrix von Storch (AfD) forderte Merz mit einer zugespitzten Frage heraus.

Und Friedrich Merz gibt eine Antwort, die seine Partei, die Christlich-Demokratische Union, für immer verändern könnte – vielleicht sogar zerreißen wird. Zunächst gibt er dem Impuls nach, den Spieß umzudrehen und der AfD-Abgeordneten „einen reinzuwürgen“:

„Über die Tragweite und die Reichweite von Artikel 1 Satz 1 unseres Grundgesetzes, Frau von Storch, würde ich bei anderer Gelegenheit dann gerade mit ihnen gerne mal diskutieren.“

Da hat er’s ihr aber gegeben! Frenetischer Beifall im Plenarsaal. Und dann sagt der Bundeskanzler den entscheidenden Satz:„Aber auf ihre hier gestellte Frage ist meine ganz einfache Antwort: Ja.“

Jetzt ist es raus: Merz ist – vielleicht aus Unachtsamkeit, weil ihm der erste Teil der Antwort wichtiger war – in die Falle getappt, die Beatrix von Storch für ihn ausgelegt hat. Und anders als nach dem vermeintlichen Touche!-Moment setzt eine Schrecksekunde ein, statt Beifall herrscht in der Unionsfraktion offenbar lähmendes Entsetzen. Nur eine Handvoll Abgeordneter ringt sich zu einem sekundenlangen Klatschen durch. Dann: Stille.

Erst wich er aus – dann fiel der fatale Satz: Bundeskanzler Friedrich Merz.

Ob Friedrich Merz in diesem Augenblick die Tragweite seiner Aussage bewusst geworden ist? Dass er die Büchse der Pandora geöffnet hat? Mit einem kurzen Satz den programmatischen Kern seiner Partei, das christliche Menschenbild, abgeräumt hat? Einen massiven Keil in die eigene Wählerschaft getrieben hat?

Auf einmal steht Beatrix von Storch, eine fromme Christin, eher als er für eine Wählergruppe, die traditionell das Fundament der Union, jedenfalls in ihr fest verwurzelt ist – und vielleicht jetzt war. Die er mit seinem trotzig vorgetragenen „Ja!“ zutiefst verstört hat. Nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht längst entschieden hat, dass die Menschenwürde auch für das ungeborene Leben gilt.

Sondern auch, weil im aktuellen CDU-Grundsatzprogramm „In Freiheit leben. Deutschland sicher in die Zukunft führen“, verabschiedet am 7. Mai 2024, schwarz auf weiß steht: „Die CDU orientiert sich am christlichen Bild vom Menschen und seiner unantastbaren Würde und davon ausgehend an den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.“

Im Wahlprogramm von CDU und CSU für die Bundestagswahl 2025 wurde man noch deutlicher: Hier wurde das Thema Schwangerschaftsabbruch und Schutz des ungeborenen Lebens explizit angesprochen: „Die geltende Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch bildet einen mühsam gefundenen gesellschaftlichen Kompromiss ab, der das Selbstbestimmungsrecht der Frau und den Schutz des ungeborenen Kindes berücksichtigt. Zu dieser Rechtslage stehen wir.“ Die CDU/CSU betont also, dass sie an dieser Regelung festhalten will, da sie einen Ausgleich zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Schutz des ungeborenen Lebens darstellt.

War mit dem „Politikwechsel“ die Abkehr von den eigenen Werten gemeint?

Friedrich Merz selbst hatte im November vergangenen Jahres einen Gesetzesvorstoß einiger Parlamentarier scharf kritisiert, die Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche legalisieren (und nicht nur straffrei stellen) wollen – und sich über den damaligen Kanzler Olaf Scholz empört:

„Ich bin wirklich entsetzt darüber, dass derselbe Bundeskanzler, der immer wieder vom Zusammenhalt, vom Unterhaken und von Gemeinsinn spricht, mit auf der Liste dieses Gruppenantrages mit seiner Unterschrift erscheint." Mit dem Vorstoß solle versucht werden, den Paragraphen 218 „im Schnellverfahren zum Ende der Wahlperiode abzuschaffen", sagte Merz. Dabei handele es sich um ein Thema, „das wie kein zweites das Land polarisiert, das wie kein zweites geeignet ist, einen völlig unnötigen weiteren gesellschaftspolitischen Großkonflikt in Deutschland auszulösen".

Und jetzt kündigt er an, ein reines Gewissen zu haben, wenn er am Freitag die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf ins Bundesverfassungsgericht wählt? Eine Frau, die gesagt hat, „Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“? Die im Februar bei einer Anhörung im Bundestag kundtat: „Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt“?

Hochumstrittene Personalie: Prof. Frauke Brosius-Gersdorf.

Das Ja des Bundeskanzlers zu Brosius-Gersdorf ist seiner eigenen Logik zufolge ein Ja zu einem „völlig unnötigen weiteren gesellschaftspolitischen Großkonflikt“ – und ein Nein zu den christlichen Grundwerten seiner eigenen Partei. Das bestürzt nicht nur die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), Susanne Wenzel. Sie schrieb auf der Plattform X: „Ich bin fassungslos“. Und: „Zur Erinnerung: Bei der CDU-Mitgliederbefragung 2023 haben rund 93,5 % den Lebensschutz als wichtig bzw. besonders wichtig in der CDU eingestuft. Die Mitte der CDU lehnt dieses Votum gegen die Menschenwürde für Kinder im Mutterleib also ab.“

Auch die bayerischen Bischöfe Stefan Oster SDB und Rudolf Voderholzer verteidigen das Lebensrecht mit deutlichen Worten. In einer Stellungnahme schrieben sie: „Unser Grundgesetz ist maximal inklusiv. Menschen wird unabhängig von seiner Lebenssituation Menschenwürde und das Recht auf Leben zugesprochen. Ausschlüsse davon kann und darf es unter keinen Umständen geben. Dies unbedingt zu garantieren, ist die Pflicht des Staates.“

„Wer die Ansicht vertritt, dass der Embryo oder der Fötus im Mutterleib noch keine Würde und nur ein geringeres Lebensrecht habe als der Mensch nach der Geburt, vollzieht einen radikalen Angriff auf die Fundamente unserer Verfassung“, erklärten Oster und Voderholzer mit Nachdruck. „Ihm oder ihr darf nicht die verbindliche Auslegung des Grundgesetzes anvertraut werden.“

Warum hat sich Merz, im Grunde ohne Not, in die Bredouille geritten? Auf von Storchs zugespitzte, aber im Kern implizit korrekte Frage, ob er der Meinung sei, dass man ein Baby töten darf, hätte er elegant um eine Antwort herumkurven können. „Das können Sie so nicht formulieren“, „Das hat Frau Brosius-Gersdorf so nicht gesagt“, „Da haben Sie Frau Brosius-Gersdorf falsch verstanden“ – wie auch immer. Stattdessen gab Merz seiner bekannten Neigung nach, impulsiv oder provokativ zu reagieren, auf die Gefahr hin, schwerste Irritationen auszulösen und seine Worte später wieder zurücknehmen zu müssen.Wie es beim Wort „Sozialtourismus“ der Fall war, als es um Ukrainer ging, die in Scharen mit dem Flixbus von Kiew nach Berlin und wieder zurück fahren. Oder um Migranten, die das deutsche Gesundheitswesen belasten: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“ Von den „kleinen Paschas“ abgesehen, entschuldigte sich Merz jedes Mal, wenn der Shitstorm losbrach.

Es ist das alte Problem des Friedrich Merz: Er, der als eher spröde wahrgenommen wird, will immer mal wieder einen eigentlich nüchternen Punkt (in diesem Fall eine juristische Frage) emotionalisieren und unbedingt kernig und schneidig rüberkommen – und es sind solche Momente wie am Mittwochmittag, in denen es dann für seine Partei gefährlich wird. Ein gewiefterer Politiker an seiner Stelle hätte Beatrix von Storch mit einer Nicht-Antwort abblitzen lassen. Merz wählte, möglicherweise ohne es zu merken, einen Weg, der seine Partei implodieren lassen könnte.

Im Gegensatz zu den „Shitstorms“ der Vergangenheit, hat sich Merz die aktuelle Empörung redlich verdient. In den Vereinigten Staaten, so viel ist sicher, wäre seine politische Karriere mit dem störrisch ausgespienen „Ja!“ vorbei gewesen. In Amerika ist der Schutz des ungeborenen Lebens ein zentrales und stark polarisierendes Thema, das die politische Landschaft seit Jahrzehnten prägt. Es beeinflusst Wahlkämpfe, Gesetzgebung und Gerichtsentscheidungen und mobilisiert Wähler beider politischer Lager.

Amerika: Abtreibungsgegner beim „Marsch für das Leben“. In den USA wäre Merz' Karriere jetzt beendet.

Die Debatte dreht sich um ethische, religiöse, rechtliche und individuelle Freiheitsfragen, insbesondere seit dem wegweisenden Urteil Roe v. Wade (1973), das ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit des Fötus (ca. 24. Woche) festlegte, und dessen Aufhebung durch den Obersten Gerichtshof 2022, wodurch die Regelung an die Bundesstaaten übergeben wurde.

Die Abtreibungsdebatte ist eines der emotionalsten Themen in den USA. Sie spaltet die Gesellschaft in „Pro-Life“-Befürworter, die den Schutz des ungeborenen Lebens priorisieren, und „Pro-Choice“-Befürworter, die die Entscheidungsfreiheit der Frau in den Vordergrund stellen. Beim deutschen Paragraphen 218 handelt es sich um einen Kompromiss, der nicht jeden zufriedenstellt, aber den gesellschaftlichen Frieden wahrt

In Deutschland ist das Thema deshalb weniger hart umkämpft, aber man darf getrost davon ausgehen, dass das von Merz‘ ausgelöste politische Erdbeben jetzt vor allem die traditionellen, katholischen Hochburgen der Union erschüttert. Zuallererst wohl seine eigene Heimat, den Hochsauerlandkreis, eine ländliche, stark katholisch geprägte Region mit einer traditionell konservativen Wählerschaft. Den Bodenseekreis, insbesondere die Region rund um Konstanz. Und Bayern, wo die katholische Kirche eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt, insbesondere in den ländlichen Gebieten Ober- und Niederbayerns und der Oberpfalz.

Merz' Aussage dürfte das friedliche Sauerland erschüttern.

Friedrich Merz selbst ist im erzkatholischen Sauerland aufgewachsen, dazu gehört eine bestimmte Sozialisation. Sein Biograf Volker Resing sagt: „Friedrich Merz ist praktizierender Katholik. Aber er zeigt das nicht so.“ Sicher ist, dass er nicht dem Lager in der CDU angehört, das, verkörpert durch Protagonisten wie Werner Remmers, Bernhard Vogel oder Norbert Lammert die Partei mit katholischen / christlichen Inhalten prägte.

Laut Resing ist Merz‘ Vater zum Katholizismus konvertiert, seine eigenen Kinder aber wuchsen evangelisch auf – woraus der Biograf den Schluss zieht, die evangelische Prägung deute wahrscheinlich auch eine eher liberale Haltung in kirchlichen Dingen hin.

Volker Resing (mit Markus Söder) bei der Vorstellung seines Buchs „Friedrich Merz. Sein Weg zur Macht“.

Wie auch immer: „The shit has hit the fan“, der Schlamassel ist komplett, und Friedrich Merz, der einst als Garant konservativer Werte galt, steht als Opportunist da, der sogar die Grundpfeiler christlicher Ethik opfert, um seine eben mühsam errungene Macht zu behalten. Ob ihm das die Partei, die sich vom Atomausstieg über die offenen Grenzen und die Kooperation mit BSW und Linkspartei bis zum Rekordschuldenmachen schon viele früher undenkbare Volten aufzwingen ließ, ihm auch diesen Move verzeiht? Und wenn sie es tut – tun es dann auch ihre Wähler?

Mittwoch, 9. Juli 2025, 13.54 Uhr – diesen Moment werden sich Historiker merken müssen. Sollten die Unions-Abgeordneten am Freitag tatsächlich die Personalie Frauke Brosius-Gersdorf durchwinken, eine Frau, deren Positionen den Überzeugungen der meisten CDU-Wähler dramatisch zuwiderlaufen, ist das der Anfang vom Ende der CDU. Und der Totengräber heißt dann ausgerechnet Friedrich Merz.

Lesen Sie dazu auch: Regierung bricht nächstes Versprechen: Millionen für den Kongo, aber nichts für uns!

Publisher Logo

Dieser Artikel ist von NiUS

Klicke den folgenden Button, um den Artikel auf der Website von NiUS zu lesen.

Weitere Artikel