Eine Million Fälle bei Staatsanwaltschaften noch offen – während Politiker fleißig Beleidigungen anzeigen

vor 5 Tagen

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Bildquelle: Apollo News

Deutschlands Strafverfolgungsbehörden sind maßlos überlastet. Das geht aus einem Bericht der Bild am Sonntag unter Berufung auf eine Auswertung des Deutschen Richterbundes hervor. Demnach seien 2024 nicht nur 5,5 Millionen neue Fälle bei den Staatsanwaltschaften eingegangen – das sind 515.000 mehr als noch 2020. Es seien außerdem fast eine Million dieser Fälle bis zum Ende des vergangenen Jahres noch nicht bearbeitet worden.

950.000 Fälle waren bei den Strafverfolgungsbehörden demnach noch offen – das sind noch einmal 240.000 mehr als 2020. Und: Immer mehr Verfahren werden eingestellt. So führte nur jeder 16. Fall zu einer Anklage, 2014 war es noch jeder zehnte Fall. Diese Zahlen werfen nicht nur die Frage auf, ob sich die Kriminalitätslage in Deutschland verändert hat und wie groß der Juristenmangel ist, sondern auch, warum gerade in solchen Zeiten tausende Anzeigen wegen des von vielen Fachleuten kritisierten Politikerbeleidigungsparagrafen gestellt und bearbeitet werden.

Die Rede ist von Paragraf 188 des Strafgesetzbuches, der Bekanntheit erlangte, nachdem der Rentner Stefan Niehoff im November 2024 eine Hausdurchsuchung erlebte, weil er ein Bild von Robert Habeck mit der Unterschrift „Schwachkopf Professional“ auf X per Retweet geteilt hatte. Die Staatsanwaltschaft Bamberg warf Niehoff vor, damit dem politischen Amt des damaligen Wirtschaftsministers geschadet zu haben.

Obwohl es zu einer Hausdurchsuchung kam, wurde der Fall im April jedoch nicht zur Anklage gebracht, sondern fallengelassen (mehr dazu hier). Und dennoch war er Anstoß für eine breite Debatte, denn in der Folge wurde bekannt, dass allein Habeck und Annalena Baerbock zusammen seit Beginn der 20. Legislaturperiode bis August 2024 über 1.300 Anzeigen stellten.

Von Habeck kamen über dessen Wirtschaftsministerium 805 Anzeigen, von Baerbocks Außenministerium waren es 513 – jeweils übrigens ausschließlich wegen Beleidigung oder Bedrohung. Ungeschlagen an der Spitze steht jedoch Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Einer Recherche von Apollo News aus November 2024 zufolge hat die FDP-Politikerin allein bei der Staatsanwaltschaft Köln insgesamt 1.970 Anzeigen gestellt (mehr dazu hier).

Klar ist, dass immer wieder Verfahren eingestellt werden. Deswegen fragte Apollo News ebenfalls im November bei allen Staatsanwaltschaften an, wie viele Ermittlungen es zu diesem Zeitpunkt wegen Politikerbeleidigung nach Paragraf 188 gab. Ein Großteil der Staatsanwaltschaften konnte die Frage aufgrund unvollständiger Statistiken nicht beantworten. Aus den Zahlen der Ermittlungsbehörden, die die Fragen beantworten konnten, geht hervor, dass mehr als 1.300 Verfahren wegen Politikerbeleidigung seit Beginn der Ampel-Regierung in Deutschland geführt wurden (mehr dazu hier).

Im Verhältnis zu den 5,5 Millionen neuen Fällen in 2024 erscheinen diese Zahlen erst einmal lapidar. Aber einerseits gibt es eine nicht bezifferbare Dunkelziffer – wie viele Anzeigen Habeck beispielsweise persönlich stellte oder wie viele Fälle ohne eine Anzeige ermittelt wurden, weil es sich bei Paragraf 188 um ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen handelt, ist nicht bekannt. Und andererseits sind es nicht nur Habeck, Baerbock und Strack-Zimmermann, auch andere Politiker sorgen mit Anzeigen – vor allem wegen Beleidigung nach Paragraf 185 oder Paragraf 188 – immer wieder für Aufsehen.

Zuletzt hatte das Amtsgericht Düsseldorf einen Strafbefehl über 16.100 Euro unterzeichnet, weil ein Mann unter anderem Katrin Göring-Eckardt gemäß Paragraf 185 beleidigt haben soll, als er auf X schrieb: „Ja, es gibt eine extreme Dürre, und zwar bei KGE im Kopf“ (mehr dazu hier). Alice Weidel nutzte den Paragrafen 188 überdies für mehrere Anzeigen, berichtete t-online. Ob es sich dabei um dutzende oder eine dreistellige Zahl von Anzeigen handelt, ist jedoch nicht bekannt.

Klar ist aber, dass Paragraf 188, in dem es konkret um die „gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung“ geht, längst eine Debatte unter Juristen und Experten ausgelöst hat. Viele fordern seine Abschaffung. Konterkariert wird diese Forderung jedoch von zahlreichen Meldestellen, die in Deutschland in den letzten Jahren gegründet wurden und teilweise staatlich finanziert sind.

Diese Meldestellen, etwa die im Rahmen des Digital Services Act der EU als „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ qualifizierten Respect! und HateAid, durchsuchen das Internet nach auffälligen Beiträgen oder nehmen Meldungen von Personen entgegen und leiten diese nicht nur an die betreffende Plattform weiter, sondern kontaktieren gegebenenfalls auch die Behörden oder dort ansässige Stellen – etwa die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) des Bundeskriminalamtes.

Dabei werden aber nicht nur Politikerbeleidigungen gemeldet, sondern sämtliche Vergehen im Internet. Eine Recherche von Apollo News hat kürzlich gezeigt, in welchem Ausmaß strafrechtsrelevante Fälle bei der ZMI ankommen – und in welchem Verhältnis. 49 Prozent der zwischen 2021 und 2025 registrierten Meldungen wurden dem Phänomenbereich politisch motivierte Kriminalität (PMK) rechts zugeordnet – nur 0,5 Prozent waren PMK links. In 40 Prozent der Fälle erfolgte die Zuordnung „Sonstige“, in knapp 9 Prozent „ausländische Ideologie“ und ein Prozent entfiel auf „religiöse Ideologie“.

Außerdem gab es allein im zweiten Quartal 2025 auf Grundlage der Meldungen insgesamt 3.420 strafrechtsrelevante Fälle, allein 1.528 Fälle, also 45 Prozent, gingen auf den Politikerbeleidigungsparagrafen 188 zurück. Im gesamten letzten Jahr waren es 12.509 Meldungen, von denen sich 3.009, also knapp ein Viertel, auf den besagten Paragrafen bezogen.

Aufgrund dieser Zahlen ist also davon auszugehen, dass die Justiz- und Ermittlungsbehörden durchaus mit dahingehenden Meldungen und Anzeigen ausgelastet werden. Angesichts der Tatsache, dass bei den Staatsanwaltschaften zum Ende des vergangenen Jahres noch 950.000 Fälle offen waren, könnte die Verfolgung von Äußerungsdelikten also hinterfragt werden.

Die Lösung des Richterbundes sieht aber zunächst anders aus: Da die Bundesregierung bereits fast eine halbe Milliarde Euro versprochen hat, müssten die Länder „noch in diesem Herbst eine Personaloffensive zusagen, damit die Co-Finanzierung des Bundes fließen kann und rasch zusätzliche Stellen in der Justiz ankommen“. Das sagte Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Richterbundes, gegenüber der Bild am Sonntag. Denn „die Probleme insbesondere der chronisch überlasteten Ermittlungsbehörden und Strafgerichte dulden keinen Aufschub mehr“.

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