Epidemiologe Friedrich Pürner: „‚Hitzetote‘ sind keine offizielle medizinische Diagnose, sondern eine statistische Schätzung“

vor 6 Tagen

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Wie viele Menschen sterben wirklich an Hitze? Der Epidemiologe, Facharzt und EU-Abgeordnete Dr. Friedrich Pürner hält die offiziellen Zahlen zur sogenannten Hitzesterblichkeit für erklärunsbedürftig und ohne Kontextualisierung für irreführend. In Wahrheit handele es sich um statistische Modelle, nicht, wie oft suggeriert, um diagnostisch belegte Todesfälle. Im Gespräch mit NIUS erklärt Pürner, warum die Kategorie „Hitzetod“ medizinisch gar nicht existiert – und weshalb die Panikmache mit hohen Temperaturen ein kulturelles Zeitgeistproblem sind.

Friedrich Pürner wurde 2024 für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ins EU-Parlament gewählt. Nach politischen Konflikten trat er kurz nach der Wahl aus der Fraktion aus – seither ist er fraktionsloser Abgeordneter.

NIUS: Sie kritisieren die Zahlen zur Hitze-Sterblichkeit als wenig belastbar. Sie seien zwar nicht unseriös, aber eben statistisch und nicht diagnostisch erhoben. Können Sie das bitte etwas näher erläutern?

Dr. Friedrich Pürner: Es geht um den Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen Statistik und Diagnose. Wenn von Hitzetoten gesprochen wird, dann beruht das auf einem mathematischen Modell. Das heißt: Wenn es etwa heißt – ich greife das jetzt aus der Luft – es gebe 3.000 Hitzetote im Jahr, dann bedeutet das nicht, dass tatsächlich 3.000 Menschen konkret an der Hitze gestorben sind. Diese Zahl ist geschätzt.

NIUS: Und wie wird sie geschätzt?

Pürner: Das ist im Prinzip recht einfach: Man spricht hier von einem sogenannten „Exzess“, also von Übersterblichkeit. Ich mach’s mal ganz simpel: Sie zählen an einem Ort über einen Zeitraum hinweg täglich 100 Todesfälle. Und an einem bestimmten Tag sind es plötzlich 120. Dann fragen Sie sich natürlich: Woran liegt das?

Auch in Deutschland kann es im Sommer ziemlich heiß werden. Foto: Strand am Norddeich, Ostfriesland.

Sie schauen aufs Thermometer und stellen fest: Es ist Sommer, es hat 32 Grad. Dann sagt man: Aha – möglicherweise sind das 20 hitzebedingte Todesfälle. Aber man kann eben nicht einfach sagen: Diese 20 sind alle durch Hitze gestorben. Deshalb rechnet man mit statistischen Modellen, die gewisse Einflussfaktoren berücksichtigen. Und so kommt man dann – ganz vereinfacht – auf die Annahme, dass zum Beispiel 70 Prozent dieser zusätzlichen Toten wahrscheinlich durch Hitzeeinwirkung früher verstorben sind, als sie es sonst wären. In unserem Beispiel wären das dann etwa 14 Personen. Das ist eine Schätzung. Aber es bleibt eine Modellrechnung, kein Diagnosenachweis. Denn es gibt keinen eigenen Diagnosecode für „Hitzetod“.

NIUS: Verstehe. Und so etwas wie „Hitzschlag“ – gibt es das als Diagnose?

Pürner: Ja, den Hitzschlag gibt es – und er hat auch einen ICD-Code. Das ist der entscheidende Punkt bei diesem Thema: Todesbescheinigungen werden in Deutschland oft sehr schlecht ausgefüllt – das können Gerichtsmediziner bestätigen. Der Begriff „Hitzetod“ wäre auf einer Todesbescheinigung falsch. Selbst wenn ihn ein Arzt dort irgendwo einträgt, kann das Gesundheitsamt ihn nicht systematisch erfassen, weil es dafür keine eindeutige Kategorie gibt.

Und das ist vielleicht auch gut so. Denn wenn man wüsste, wie oberflächlich Leichenschauen hierzulande oft ablaufen, würde man in den Sommermonaten wahrscheinlich sehr viele „Hitzetote“ produzieren – auf dem Papier.

Dr. Friedrich Pürner kritisierte scharf die Corona-Politik – problematische Ähnlichkeiten sieht er nun im Zusammenhang mit der Klimapolitik.

Dr. Pürner ist Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe und früherer Leiter des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg in Bayern. Bekannt wurde er 2020, als er öffentlich Kritik an der Corona-Politik der Bayerischen Staatsregierung unter Markus Söder übte – insbesondere an den pauschalen Lockdown-Maßnahmen und der damaligen Teststrategie.

Nach seinen kritischen Äußerungen wurde Pürner im Oktober 2020 auf eine andere Stelle im bayerischen Landesamt für Gesundheit „versetzt“. Viele sahen darin eine politische Strafmaßnahme. Pürner selbst kritisierte mangelnden öffentlichen Diskurs und wurde zu einer prominenten Stimme der innerärztlichen Opposition gegen staatliche Corona-Maßnahmen.

NIUS: Das heißt: Es besteht eine gewisse Gefahr, dass solche Schätzungen falsch eingeordnet oder politisch missbraucht werden?

Pürner: Ja, genau. Deshalb halte ich es für gefährlich, wenn man diese Unterschiede nicht kennt – zwischen Hitzetod, Hitzschlag und statistischer Übersterblichkeit. Wenn ich mir ansehe, wie viele Leute sich auf Twitter über diese Zahlen aufregen, merke ich einfach, dass in der Bevölkerung ein enormes Unwissen herrscht.

NIUS: Sie hatten ja selbst auf X geschrieben: „Gezählt wird, wie viele Menschen mehr als erwartet sterben – und das wird rechnerisch der Hitze zugeschrieben.“

Um jedoch eine Übersterblichkeit zu beurteilen, müsste man doch das ganze Jahr betrachten. Also zum Beispiel: Sterben 2025 mehr Menschen als 2005? Es wird ja oft suggeriert: Der Klimawandel ist so schlimm, Tausende sterben wegen der Hitze. Könnten aber nicht auch andere Faktoren in die Statistik hineinwirken – etwa die demografische Entwicklung, weil die Bevölkerung insgesamt älter wird?

Pürner: Absolut. Es gibt viele mögliche Gründe für statistische Auffälligkeiten. Deshalb arbeiten solche Modelle mit mathematischen Korrekturen, um gewisse Verzerrungen zu minimieren. Aber es bleibt eben eine Schätzung, eine Annäherung – nicht mehr. Mathematisch ist das in Ordnung, deshalb sage ich auch nicht, dass es unseriös ist. Aber man muss klar benennen, was es ist: Es handelt sich nicht um gezählte, obduzierte Todesfälle. Es sind Schätzungen – wie man sie früher bei der Grippe gemacht hat. Auch da hat man mit Berechnungen gearbeitet: Man schaut, wie viele Menschen in einem bestimmten Zeitraum normalerweise sterben, und alles, was darüber liegt, wird der Influenza zugeschrieben.

Und natürlich spielen Alter, Vorerkrankungen und viele weitere Faktoren eine Rolle. Diese Fehler versucht man mit Formeln abzufedern – aber auch dann bleiben immer gewisse Ungenauigkeiten. Jeder Epidemiologe weiß das. Das ist kein Skandal – aber es muss eben richtig eingeordnet werden.

NIUS: Verstanden. Was stört Sie besonders?

Pürner: Was mich stört, ist die Art, wie solche Zahlen politisch verwendet werden. Wenn Medien oder Politiker – wie etwa Janosch Dahmen von den Grünen – solche Modelle als harte Fakten präsentieren und damit Angst machen, finde ich das problematisch. Gerade von einem Arzt sollte man mehr Sachkenntnis erwarten, auch wenn er kein Epidemiologe ist.

Janosch Dahmen (Grüne) war Mitinitiator des Gesetzesentwurfs für eine allgemeine Impfpflicht – sie könne zur „Befriedung der Gesellschaft beitragen“. Heute fordert er von der Politik, mehr gegen angebliche Wasser- und Trockenheitsprobleme in Deutschland zu tun. Auch begrüßt der Bundestagsabgeordnete Rauchverbote im öffentlichen Raum, selbst an der frischen Luft.

NIUS: Herr Dahmen war ja auch ein lautstarker Befürworter der Corona-Impfpflicht. Und bei Corona war es doch so, dass die sogenannten Corona-Toten im Durchschnitt ein Alter erreicht hatten, das ungefähr der allgemeinen Lebenserwartung entsprach. Ist das nicht auch bei den sogenannten Hitzetoten der Fall?

Pürner: Es gibt jedenfalls eine klare Parallele: Ein gesunder Mensch mittleren Alters stirbt nicht einfach so an Hitze. Was mich wirklich stört, ist die Doppelmoral: In Deutschland sind 33 Grad eine Katastrophe – aber in ein paar Wochen fliegen wieder Zehntausende in den Süden, bei 40 Grad, mit der Erwartung, dass es schön heiß sein soll. Das ist doch absurd.

In Griechenland, Spanien, Italien – die Menschen leben dort auch nicht physiologisch anders als wir. Die gehen einfach anders damit um. Wer bei 33 Grad mittags einen Marathon läuft, muss sich nicht wundern, wenn er umkippt.

NIUS: Stimmt – das ist gefährlich.

Pürner: Ja, manche Dinge lässt man eben besser sein. Wer trainiert ist, kann es machen – aber gesund ist es nicht. Und dann diese ganzen Empfehlungen: ,Trinken Sie viel Wasser’ – das ist ja nett gemeint, aber ehrlich gesagt, der gesunde Mensch hat einen Durstmechanismus. Wer schwitzt, bekommt Durst. Das regelt sich bei den meisten von selbst. Alte und Kranke müssen mehr darauf achten bzw. man sollte sie dabei unterstützen. Und dass man bei 35 Grad nicht ohne Kopfbedeckung in der prallen Sonne spazieren geht – das versteht sich eigentlich von selbst. Ich frage mich manchmal: Brauchen die Leute wirklich eine Anleitung zum Leben? Das wirkt auf mich zunehmend lebensfremd.

NIUS: Und auch ein bisschen bevormundend. Will der Nanny-Staat den Bürgern alles erklären, was mit gesundem Menschenverstand offensichtlich wäre?

Pürner: Ganz genau. Und die Bürger sollen dann gehorchen, brav alles ernst nehmen und bestenfalls noch Angst bekommen. Die Wetterkarten sind inzwischen knallrot – da bekommt man ja schon Angst beim Hinschauen. Es ist eine völlig überdrehte Inszenierung.

NIUS: Und Sie sagen: Das eigentliche Problem ist nicht das Modell an sich, sondern der Umgang damit?

Pürner: Richtig. Ich habe nichts gegen das mathematische Modell – als Epidemiologe ist mir das vertraut. Aber man muss es korrekt einordnen. Und den Leuten ehrlich sagen: Das ist nur eine Schätzung. Mehr wissen wir nicht. Und das ist völlig in Ordnung.

NIUS: Der Fernsehmediziner Eckart von Hirschhausen sagte mal: „Hitze ist die größte Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts.“ Was halten Sie davon?

Pürner: Solche Aussagen halte ich jedenfalls für maßlos übertrieben. Wenn man sich die Wetterdaten seit 1881, dem Beginn der Wetteraufzeichnungen, ansieht, findet man immer wieder Phasen mit ähnlichen Temperaturen. Heute ist der 30. Juni – da darf es ruhig 30 bis 33 Grad haben. Das ist Sommer. Wer daraus ein Panikszenario ableitet, instrumentalisiert das Klima für andere Zwecke. Das ist schlicht schade – weil es die sachliche Debatte kaputtmacht.

NIUS: Erinnert sich vielleicht auch der ein oder andere falsch? Sie denken, früher war es nie so heiß.

Pürner: Genau. Das sind klassische retrospektive Fehler. Man erinnert sich falsch. Und auch die Daten selbst sind nicht perfekt – Wetterdaten werden seit 1881 systematisch erhoben, aber immer von Menschen. Und wo Menschen messen, gibt es Fehler. Das ist normal.

Ich erinnere mich an Urlaube in Griechenland in meiner Jugend – 40 bis 45 Grad waren dort völlig normal. Straßen, die heute „schmelzen“, wie in einem aktuellen Bild-Artikel – das liegt vielleicht eher an der Qualität der Straßen als an der Temperatur.

NIUS: Letzte Frage: Ist Hitze heute gefährlicher als früher?

Pürner: Nein – nicht aus physiologischer Sicht. Aber: Für manche Menschen kann sie gefährlicher sein, weil sie verlernt haben, mit der Umwelt zu leben. Viele brauchen heute für alles eine genaue Anleitung. Trinken, Schlafen, Verhalten bei Hitze – alles muss geregelt sein. Das ist aber kein medizinisches Problem, sondern ein kulturelles.

NIUS: Ein Mangel an Mündigkeit?

Pürner: Das kann man so sagen. 30 Grad waren früher 30 Grad – und sind es auch heute noch.

NIUS: Vielen Dank für das Gespräch!

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