Wenn man mir einen italienischen Pass gibt, bin ich noch längst kein Italiener

vor etwa 19 Stunden

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Ich werde Deutschland nicht los. Ich will es auch gar nicht. Aber selbst, wenn ich es wollte, würde ich dieses Land nicht mehr aus den Knochen kriegen.

Bei der Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ war als ein maßgeblicher Grund das „ethnisch-abstammungsmäßige Volksverständnis“ genannt, das angeblich ganze Volksgruppen abwerte.

Ich halte diese Argumentation für falsch und abwegig, weil beispielsweise die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein, die sogar einen eigenen Sitz im Deutschen Bundestag hat, oder die Sorben in der Lausitz überhaupt nicht sichtbar und benennbar wären, wenn man kein „ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis“ zugrunde legte. Für Spätaussiedler aus Russland oder Siebenbürgen, für Palästinenser oder Basken gilt das gleiche, wie Thilo Sarrazin an dieser Stelle unlängst schlüssig nachgewiesen hat.

Osterreiter auf festlich geschmückten Pferden am Ostersonntag, ein jahrhundertealter religiöser Brauch der katholischen Sorben in der Oberlausitz. Ohne ein „ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis“ wären die Sorben in der Lausitz überhaupt nicht sichtbar.

Unterschiede zu benennen, ist keine Abwertung. Automatische Abwertung anderer ist mit der Erwähnung und Pflege der eigenen Wurzeln keineswegs zwingend verbunden.

Für mich ganz persönlich ist die Herkunft, sind die deutschen Wurzeln, sogar das Dominierende, das viel tiefer Prägende als Pass und Staatsangehörigkeit. Das ist mir erst im Laufe des Lebens in ganzer Deutlichkeit klargeworden, und vielleicht ist es auch eine Frage des Alters. Mit sechs ist die Landschaft, in der das eigene Leben spielt, noch austauschbar, mit fünfzig wird es schwer.

Ich bin kein Nationalist, kein Chauvinist oder sonst wie auf „germanisches Blut“ fixierter Teutone. Ich hatte das große Glück, durch meinen Beruf (abgesehen von den Polkappen) alle Kontinente bereisen zu können und habe mich an vielen faszinierenden Orten der Welt gefragt, ob ich dorthin auswandern würde. Für einige Zeit wären Santiago de Chile, Sydney, New York, Paris oder Budapest auf jeden Fall faszinierend. Auf Dauer würde ich mir etwas vormachen, wenn ich glaubte, meine Identität ablegen zu können.

Es ist die Sprache, die ich verstehe, wie keine zweite, obwohl ich etliche im Laufe der Jahre (Englisch, Ungarisch, Russisch, Französisch) unterschiedlich gut gelernt habe. In Deutsch verstehe ich Zwischentöne, ironische Andeutungen, Dialekte und winzige Bedeutungsverschiebungen zwischen gebräuchlichen und altertümlichen Formulierungen. In Deutschland haben fast alle Dinge eine historische Beziehung zu mir, meinen Vorfahren oder dem ostelbischen Preußen, in dem ich aufgewachsen bin.

Meine Vorfahren sind umhergewandert zwischen Herzogtümern, zwischen Sachsen, Niedersachsen, dem heutigen Baden-Württemberg und Preußen. Es gibt weitläufige verwandtschaftliche Verbindungen zum „Wüstenfuchs Rommel“ und mütterlicherseits zum Mörder-Metzger Fritz Haarmann („Kannibale von Hannover“). Ich kann mich nicht aus den Verbrechen der deutschen Geschichte abmelden und leide an den Schauplätzen des NS-Horrors wie ein Hund, weil dieser Wahnsinn nicht ungeschehen zu machen ist.

Einer von vielen Schauplätzen des NS-Horrors: das Konzentrationslager Auschwitz.

Und wenn ich in der Leipziger Thomaskirche stehe, klingt Bachs musikalisches Welterbe auch in mir und den Aufführungen, an denen meine Familie beteiligt war.

Kurz: Ich wurzele in diesem Deutschland, im Deutschsein. Ich habe die sozialistische Diktatur im Alltag erlebt, die Parteigänger, Mitläufer und die Aufrechten. Ich habe mit meinem Großvater, der seinen linken Unterschenkel in Frankreich verlor, als kleiner Junge Ende der sechziger Jahre die Ruinen des Nachkriegs-Berlin betrachtet.

1961: Wenige Tage nach der Abriegelung des Ostsektors stehen Westberliner vor dem Brandenburger Tor und beobachten die Bauarbeiten an der Berliner Mauer in der sowjetischen Zone.

Teile meiner Vorfahren wanderten nach Amerika aus und kamen zurück, Familienangehörige waren deutsche Pfarrer in Brasilien und der DDR und wurden in Bautzen von den Sowjets zu Unrecht erschossen. Zu glauben, ich könnte irgendwo auf dieser Welt leben und all das abstreifen oder auch nur zurücklassen, ist völlig abwegig. Undenkbar. Wenn man mir einen italienischen Pass gibt, bin ich noch längst kein Italiener. Ich könnte als „Pass-Australier“ in Brisbane oder als „Pass-Kanadier“ in Vancouver leben und würde doch immer „Bio-Deutscher“ bleiben.

Ist das schon völkisches Denken? Es ist realistisches Denken. Nicht besser oder schlechter als der Berliner Taxifahrer, der in der WDR-Doku „Was ist Deutsch?“ (mit Ranga Yogeshwar) erklärt, es fließe „arabisches Blut“ in seinen Adern. Oder wie es CSU-Urgestein Peter Gauweiler einmal sagte: Europa ist eine Abstammungsgemeinschaft. Selbst die Kriege, die im Laufe der Jahrhunderte gegeneinander geführt wurden, sind heute verbindende Bänder.

CSU-Urgestein Peter Gauweiler

Interessant ist, dass Amerika als „Willensgemeinschaft“ (Gauweiler), wo nahezu jeder eine Migrationsgeschichte hat, ganz anders tickt. Dort ist das Verbindende in der Tat viel eher die Staatsangehörigkeit. „Ich bin ein Amerikaner“, ist eine stolze und starke Ansage, danach kommen die irischen, deutschen oder andere Wurzeln. Und doch ist auch in den USA auf dem Holzweg, wer glaubt, Menschen auf „Staatsangehörigkeit“ und Pass reduzieren und die indianischen Ureinwohner („nativ americans“) von ihrer Stammes- und Volkszugehörigkeit zu trennen.

Herkunft und Abstammung sind ein tief prägendes Merkmal jedes Menschen. Das aus ideologischen oder welchen Gründen auch immer bestreiten oder gar verfolgen zu wollen, ist nicht nur weltfremd, sondern im Kern unmenschlich. Wer „Herrenmenschentum“, Herabsetzung oder Menschenfeindlichkeit bekämpfen will, muss jene ins Visier nehmen, die tatsächlich Hierarchien der Menschenwürde aufmachen.

Kritik an Zuwanderung oder die Benennung unterschiedlicher Herkunft haben damit in den allermeisten Fällen nichts zu tun. Im Gegenteil: Eine starke, selbst- und traditionsbewusste Gesellschaft ist die Voraussetzung für gelingende Integration und organisches Hineinwachsen. Ein Papier-Pass als Eintrittskarte schafft keine Identifikation und sollte das Ende von Einwanderung sein, nicht der Anfang.

Lesen Sie auch:  den Essay von Thilo Sarrazin: Wir sind das Volk – aber wer ist „wir“? – Betrachtungen aus aktuellem Anlass

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