
Das Social-Media-Verbot für Kinder unter 16 Jahren schien schon fast vom Tisch zu sein. „Unrealistisch“, „realitätsfern“, „nicht sinnvoll“, nicht zu machen. so heißt es allenthalben. Aber da haben die Kommentatoren ihre Rechnung vielleicht wieder einmal ohne die EU gemacht. Denn die legt nun genau in dieser Sache nach. Druck soll dabei auch aus einzelnen Mitgliedsstaaten kommen – wie könnte es anders sein?
Karin Prien (CDU), die „Bundesgesellschaftsministerin“ aus dem Norden, weiß offenbar mehr und fordert laut Deutscher Presse-Agentur noch immer „eine gesetzlich verankerte Altersverifikation bei der Nutzung von Tiktok, Instagram und weiteren Anwendungen“. Wozu wohl anders als für die Aussperrung von Kindern oder Jugendlichen? Aber auch andere Zwecke sind langfristig denkbar. Das Thema „Online-Sicherheit“ lässt die Regierenden nicht mehr los, egal ob in Berlin, Paris oder Brüssel. Und auch nachdem der Digital Services Act (DSA) in Kraft getreten ist, hat sich daran nichts geändert. Es geht dabei aber oft weniger um Sicherheit als um Kontrolle. Auch Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) wäre dabei. Die Koalitionspartner sind sich weiter einig in dieser Sache. So steht es ja schon im Koalitionsvertrag.
Und nun wird tatsächlich eine Initiative aus Brüssel sichtbar, die zu all dem passt wie die Faust aufs Auge. Die EU-Kommission sucht angeblich „Feedback“ zu ihren eigenen Richtlinien über den Online-Schutz Minderjähriger, so heißt es recht harmlos in der Überschrift eines Dokuments. Es geht um eine Ausweitung des Einsatzfelds für den berüchtigten Digital Services Act, unter dem große Online-Plattformen wie X oder Facebook inhaltlich in die Knie gezwungen werden sollen – unter Androhung hoher Strafen, sogar der „Abschaltung“, wie Ex-Kommissar Thierry Breton phantasierte.
Nun also die Bitte um Feedback. Lässt die Kommission etwa mit sich reden? Hört sie auf den Rat der Bürger? Man muss Entwarnung geben: Befragungen und Kummerkästen dieser Art werden immer wieder von der EU-Zentrale veranstaltet, bleiben aber ohne einschneidende Wirkung. Noch öfter bekommt die Öffentlichkeit gar nichts davon mit. Es geht also einmal mehr um die Täuschung und das Betuppen der Bürger. Insgeheim hat die Kommission längst Pläne für eine eigene „App“ zur Altersverifikation. Ob das nun auf Pariser oder Berliner Wunsch geschieht, bleibt unklar und ist am Ende fast gleichgültig.
Die EU-Kommission schreibt zur geplanten EU-Wallet-Pflicht, die zunächst für die Mitgliedsstaaten gelten soll: „Nach ihrer Einführung werden die EU-Wallets für digitale Identitäten ein sicheres, zuverlässiges und privates Mittel zur digitalen Identifizierung für jeden in der Union darstellen. Jeder Mitgliedstaat muss bis Ende 2026 allen seinen Bürgern, Einwohnern und Unternehmen mindestens eine Brieftasche zur Verfügung stellen, mit der sie nachweisen können, wer sie sind, und mit der sie wichtige digitale Dokumente sicher speichern, gemeinsam nutzen und unterzeichnen können“ (siehe Download, im Kasten bei Zeile 266).
Die jetzt vorgeschlagene App soll angeblich das Alter von Nutzern verifizieren, ohne dass deren Privatsphäre beeinträchtigt würde. In Australien gibt es nach einem Gesetz vom letzten Dezember schon so eine App, die ein mit der Kamera aufgenommenes Bild des Nutzers einstuft. Angeblich liegt die Software manchmal daneben: Fünfzehnjährige gingen dort schon als 20- oder 30-Jährige durch. Von gegenteiligen Fällen ist nichts bekannt. Aber man darf schon ein seltsames Gefühl haben, wenn eine Software Zugang zur eigenen Kamera verlangt, bevor sie einem Zutritt zu Online-Plattformen wie Youtube gewährt.
Kritiker sehen schon die Alters-App als ersten Schritt zur Auflösung der anonymen Internet-Nutzung. Was heute auf bestimmten „sehr großen Plattformen“ wie TikTok, Youtube beginnt, könnte morgen auf Medien- und Nachrichtenseiten weitergehen. Auch sie könnten dann zur Kontrolle aller Nutzer per EU-Identifikationsverfahren gezwungen oder überredet werden, ebenso wie X oder Facebook, die wohl bedeutendsten Börsen des Online-Meinungsaustauschs heute. Die digitale Kontrolle des Bürgers wäre damit elegant ins Werk gesetzt. Was immer er online tut und veröffentlicht, sei es ein Leserkommentar oder ein privater Post, wäre durch seine digitale Identität zu ihm zurückzuverfolgen. Die Nord-CDU (von Genossen Daniel Günther und Ministerin Prien) fordert schon eine „Klarnamenpflicht“ im Internet und will so angeblich die „Demokratie verteidigen“. Daran kann man erkennen, wohin die Reise wirklich gehen soll.
Ach ja, die dänische Regierung soll auch Bedarf angemeldet haben. Mette Frederiksen fordert ein Social-Media-Verbot für Unter-15-Jährige. Bildungsminister Mathias Tesfaye meinte demnach, man habe die Jugendlichen zu Versuchskaninchen „in einem digitalen Experiment“ gemacht, „dessen Ausmaß und Folgen wir nicht überblicken können“. Das soll nun rückgängig gemacht werden. Die Jugendlichen werden wieder ausgesperrt aus dem Kaninchenstall. Oder werden nicht doch alle in ein neues Experiment geführt? So wie in der Corona-Zeit deutet sich eine Entmündigung aller Bürger an – ob minder- oder volljährig, Jugendliche oder Eltern –, die nun in die Fänge der großen Identifizierungsmaschine geraten.
Kritiker der geplanten Maßnahmen wie der Autor und Journalist Jakob Schirrmacher meinen, der Schutz von Kindern würde als „politischer Hebel“ nur benutzt, um eine „digitale Identifizierungspflicht durch die Hintertür“ einzuführen, und die hätte „weitreichende Folgen für Meinungsfreiheit, Datenschutz und die Infrastruktur der offenen Gesellschaft“.
Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer (Piraten) stellt einen Zusammenhang zur Vorratsdatenspeicherung her und sieht die „verdachtsunabhängige Identifizierungspflicht“ von Internet- und App-Nutzern als Gefahr für die Vertraulichkeit, die Bürger aus verschiedenen Gründen bevorzugen. Ein solches Vorgehen würde demnach „wesentliche Funktionsbedingungen unserer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft“ beeinträchtigen. „Vielen Menschen wäre es unmöglich, noch unbelastet vom Risiko staatlicher Beobachtung sich in Notsituationen beraten und helfen zu lassen, ihre Meinung trotz öffentlichen Drucks zu äußern oder Missstände bekannt zu machen. Dies beträfe u.a. Presseinformanten, anonyme Strafanzeigen und ausländische Dissidenten“, heißt es in einem Positionspapier, an dem Breyer mitgearbeitet hat.
Es geht hier vor allem um eine auf WhatsApp und Signal ausgeweitete Vorratsdatenspeicherung, aber die öffentliche Diskussion auf Foren wie X oder Facebook wäre durch die Identifizierungspflicht ebenso in Gefahr. Diese Gefahr muss auch nicht nur vom deutschen Staat drohen – auch ausländische Staaten könnten so logischerweise Zugriff auf die Identitäten von Kritikern erlangen.
Gegen das EU-Gesetz zu digitalen Dienstleistungen setzen sich aktuell übrigens auch Online-Händler zur Wehr. Auch sie geraten als „very large platforms“ (oder Teilnehmer an einer solchen) unter Beschuss durch den DSA, der neben einer plausiblen Kontrolle auf gefälschte Produkte auch die inhaltliche Kontrolle der Plattformen und die Überwachung ihrer Nutzer verlangt. Der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel (BEVH) findet eine Registrierungspflicht beim Stöbern in Online-Märkten unnötig.