
Sagen wir es klar heraus: Große Teile der politischen Elite besitzen ein gespaltenes Verhältnis zur Realität. Dies gilt gleichermaßen für den ökonomischen Verfall Deutschlands und der EU, wie für die Kommunikation strategischer politischer Ziele, die in der Öffentlichkeit systematisch vernebelt werden. Offene Kritik am Kurs könnte die politische Märchenwelt schneller kollabieren lassen, als es das Einsickern der Realität in die öffentliche Meinung vermag.
Umso bemerkenswerter erscheinen die mahnenden Worte von Bundeskanzler Friedrich Merz bei seinem Auftritt am Samstag anlässlich des CDU-Landesparteitags in Niedersachsen. „Ich bin mit dem, was wir bis jetzt geschafft haben, nicht zufrieden – das muss mehr, das muss noch besser werden.“
Hört, hört! Ein leises Vibrato der Selbstkritik beim Bundeskanzler. Das ist selten. Und dennoch wirft der Satz die Frage auf, worauf sich Merz konkret bezieht, wenn er vom „Geleisteten“ spricht. Bezieht er sich auf den sogenannten Investitionsbooster, der die deutsche Wirtschaft marginal entlasten soll, während diese regelrecht kollabiert? Oder verweist er auf das gigantische Schuldenpaket und die aufreißenden Finanzierungslücken, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit Steuererhöhungen geschlossen werden sollen?
Im Verlauf seiner Rede in Osnabrück fand Merz dann aber ungewöhnlich klare Worte zur Lage des Sozialstaates: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“ Eine ungeschminkte Diagnose, die an Deutlichkeit eigentlich nichts zu wünschen übrig lässt.
Von einer marktwirtschaftlichen Wende, vom Vertrauen in individuelle Lösungen, Eigenverantwortung und dem raschen Abbau der Bürokratie im Land war allerdings nicht die Rede. Kurs halten, lautet da wohl die Devise.
Auch zum Bürgergeld äußerte sich der Kanzler unmissverständlich: Es könne so nicht bleiben. 5,6 Millionen Menschen lebten im Bürgergeld. Viele Bezieher könnten arbeiten, täten es aber nicht, so Merz. Er sprach damit eine Realität aus, die die Politik üblicherweise meidet.
Ein zaghafter Versuch, die missliche Lage der deutschen Sozialversicherung offen zu benennen. In Zeiten, in denen politische Beschönigungen zum Alltag gehören, darf man es fast schon als Glücksfall betrachten, wenn ein führender Politiker die ökonomischen Realitäten wenigstens ansatzweise zur Kenntnis nimmt. Haben vielleicht die neuesten Wirtschaftsdaten Merz und seine Mitstreiter in Berlin aufgeschreckt? Das Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal erneut geschrumpft, die Aussichten bleiben trostlos. Angesichts der Tatsache, dass der Staat mit massiven Kreditprogrammen steuernd eingreift und die Neuverschuldung in diesem Jahr auf etwa 3,5 Prozent treibt, verliert die private Wirtschaft mit einer Rate von 4-5 Prozent. Hier von einer Rezession zu sprechen, wäre euphemistisch und eine Verschleierung der tatsächlichen Lage – wir erleben eine Depression.
Während der Bundeskanzler am Samstag mit seiner Rede durch die harte wirtschaftliche Realität Deutschlands taumelte, ließen Vertreter der EU mediale Testballons starten.
Es war Mario Draghi, der politische Tausendsassa der EU, der mühelos zwischen dem Amt des italienischen Ministerpräsidenten und dem Chefsessel der EZB wechselte, der in diesen Tagen einen weiteren seiner Berichte vorgelegt hatte.
Darin wiederholte er seine altbekannte Forderung: Die Europäische Union müsse enger zusammenrücken und handeln wie ein einziger Staat, wolle sie geopolitisch noch eine Rolle spielen.
Also mehr von jener Medizin, die Europa krank gemacht hat. Mehr Zentralismus, weniger Subsidiarität, dafür verstärktes technokratisches Durchregieren. Draghi zeigt damit einmal mehr, was Brüssel plant – genau wie vor eineinhalb Jahrzehnten während der Staatsschuldenkrise: Konzentration der Macht in Brüssel, Entscheidungen jenseits demokratischer Kontrolle, durchgedrückt von einem politischen Apparat, der die Narrative in den Medien orchestriert. Scharfe Zensurregeln, mediale Beeinflussung der öffentlichen Meinung – dies sind unsaubere Mittel, um jede Opposition am eingeschlagenen Zentralisierungskurs zum Schweigen zu bringen.
Wir erleben die identische autoritäre Logik, die damals funktionierte und die Draghi heute erneut propagiert.
Auch Draghis Mitstreiterin Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank, befand sich am Wochenende auf Werbetour für die Politik Brüssels. Lagarde widmete sich, ein wenig abseits des geldpolitischen Parketts, dem Migrationsthema, einem Komplex, der in der deutschen Politik und in den Medien gekonnt umfahren und verfremdet wird.
Lagarde ließ ihren medialen Testballon beim Federal Reserve Meeting in Jackson Hole steigen, um die Stimmung in Europa vorsichtig auszuloten. Folgt man ihren Ausführungen, wäre ohne massenhafte Migration ein Wachstum in Europa nicht mehr denkbar (von welchem Wachstum spricht Lagarde eigentlich?). Sie verwies darauf, dass das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands ohne ausländische Arbeitskräfte heute etwa sechs Prozent niedriger läge als noch 2019.
Dass sich das Land seit geraumer Zeit in der Depression befindet, scheint sich im Führungszirkel der EZB bislang noch nicht herumgesprochen zu haben.
Dann war es Zeit für das altbekannte Totschlagargument: Ohne Zuwanderung lasse sich der Arbeitskräftemangel nicht beheben, so Lagarde. Kein Wort von der technologischen Revolution durch KI oder Robotik und die damit verbundenen Effizienzgewinne, die diesen Mangel ausgleichen werden. Kein Wort von der Migration als Sicherheitsrisiko, von kulturellen Konflikten, von einem politischen Islam, der mit europäischen Werten nicht vereinbar ist.
Dass Lagarde gerade jetzt in Jackson Hole diese Linie vertritt, ist pikant, da die USA mit der Rückführung illegaler Migranten begonnen und das Kapitel der Europäisierung amerikanischer Politik beendet haben. Ihre Rede wirkte im Land des rationellen Aufbruchs und der politischen Wende deplatziert – ein weiteres europäisches Kuriosum, das auf amerikanischer Seite bestenfalls Kopfschütteln provoziert haben dürfte.
Auch in Jackson Hole wurde deutlich, wohin die Reise in der EU geht: Die Grenzen bleiben offen, die politischen Eliten ignorieren die Gefahren, während die Linke ihr Wählerpotenzial auf Kosten der europäischen Kultur und Wirtschaft ausweitet.
Fassen wir die drei Einzelereignisse zusammen – Merz’ Rede auf dem CDU-Landesparteitag, Lagardes bizarrer Beitrag in Jackson Hole sowie den aktuellen Bericht von Mario Draghi – ergibt sich eine besorgniserregende Konklusion: Die Wirtschaft befindet sich im beschleunigten Verfall, herbeigeführt durch eine selbstverschuldete Energiekrise und Überregulierung. Gleichzeitig drohen die Sozialkassen, nicht zuletzt durch massive illegale Zuwanderung, zu kollabieren. Eine Lösung des Problems sollen Zentralisierung und Regulierung bringen – kombiniert mit weiterer ungezügelter Armutsmigration.
Auch die von Finanzminister Lars Klingbeil intonierte Debatte um Steuererhöhungen, gekleidet in die übliche sozialdemokratische Gerechtigkeitsgrütze, fügt sich nahtlos in die Gesamterzählung ein: Der Einzelne zählt nichts, der Staat regelt alles und nimmt den Bürger für seine Zwecke mehr und mehr in die Pflicht. Es ist erschreckend, mit welcher Impertinenz inzwischen in diesem Land Angriffe auf das Privateigentum der Bürger, und dazu zählen auch immer weitere Steuererhöhungen, inszeniert werden, ohne auf nennenswerten Widerstand zu treffen. Die Merz-CDU jedenfalls ist zu einem bürgerlichen Schutzwall aus Papier und heißer Luft verkommen.