Brüssel bleibt im Gasstreit stur – Europas Industrie steht an der Wand

vor etwa 1 Monat

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Am Dienstag präsentierte die Europäische Kommission unter Leitung von Präsidentin Ursula von der Leyen ihre Roadmap zum Ausstieg aus der russischen Gasversorgung. Diese setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen: Ab Ende 2025 wird es nicht mehr möglich sein, neue Lieferverträge für russisches Gas in der EU abzuschließen.

Bestehende Verträge sollen bis Ende 2027 entweder auslaufen oder nicht mehr verlängert werden. So will die Kommission den vollständigen Lieferstopp aus Russland erzwingen. Wie mit Lieferungen russischen Gases über Drittstaaten-Fakturierung verfahren werden soll, blieb zunächst unklar. Diese machen etwa ein Fünftel der russischen Gaslieferungen an die Staaten der EU aus.

Brüssels Ausstiegsplan ist ehrgeizig und möglicherweise kurzsichtig. Fakt ist, dass derzeit noch immer zwischen 13 und 16 Prozent des Gasbedarfs in der EU mit russischen Lieferungen gedeckt wird. Dies schließt auch die Lieferung über Drittstaaten mit ein. Besonders bemerkenswert: Trotz der zuletzt engeren Verflechtung mit US-amerikanischem LNG übertraf der Import aus Russland im zweiten Quartal dieses Jahres mit 12,7 Milliarden Kubikmetern selbst jenen aus den Vereinigten Staaten, der bei 12,3 Milliarden Kubikmetern lag.

Angesichts der fragilen Lage der europäischen Energienetze sowie der Importabhängigkeit bleibt offen, wie dieser Ausstieg kompensiert werden soll. Allein aufgrund der gestiegenen Gasnachfrage in Italien, Tschechien und Frankreich erhöhten sich die russischen Gasimporte im Jahr 2024 um 18 Prozent. Auch die Umleitung über Drittstaaten bleibt ein fester Bestandteil des Marktes – zu groß ist die Abhängigkeit der europäischen Industrie von konventionellen Energieträgern.

Die Internationale Energieagentur (IEA) geht davon aus, dass bis 2030 lediglich rund 50 Prozent des Gasbedarfs der EU aus nichtrussischen Quellen gedeckt werden können. Selbst der massiv geförderte Ausbau erneuerbarer Energien wird diese Lücke in der Versorgung nicht schließen können.

Die EU-Europäer versuchen derweil, der komplexen Marktstruktur mit einem zentralisierten Einkaufsmonopol in Form einer eigenen Energieagentur zu begegnen. Ob es gelingt, mit einer solchen Behörde nationale Interessen und unterschiedliche Energiebedarfe der Mitgliedstaaten in Einklang zu bringen, ist fraglich. Das Grundproblem ist bekannt – man findet es in ähnlicher Form auch bei anderen zentralisierten Institutionen wie der Europäischen Zentralbank. Hier prallen die übergeordneten Interessen Brüssels auf die nationalen Prioritäten einzelner Regierungen und sorgen regelmäßig für Konfliktstoff.

Wie soll nun das Energiedefizit kompensiert werden? Um die entstehende Lücke in der Energieversorgung zu schließen, müssen wir uns zunächst mit der handelsüblichen EU-Rhetorik begnügen. Investitionen in Erneuerbare Energieformen und weitergehende Diversifizierung sollen neben Ausbau des Imports von Flüssigerdgas (LNG) aus Ländern wie den USA und Katar vorangetrieben werden. Die EU plant hier umfangreiche Investitionen in LNG-Terminals und die entsprechende Infrastruktur. Sie dürfte zu diesem Zweck Investitionsvehikel wie die Europäische Investitionsbank (EIB) und nationale Institutionen wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in ihr Finanzierungsschema einspannen.

Ergänzend flüchtete man erneut in die eher zu vernachlässigende, fiskalisch teure Förderung von Energieeffizienzmaßnahmen und Einsparungen in der Industrie und im Bereich der privaten Haushalte – wir werden also den Gürtel in jeder Hinsicht enger schnallen müssen.

Das alles sind schlechte Nachrichten für die deutsche Industrie. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs trägt sie die Hauptlast der Sanktionspolitik gegenüber russischer Energie. Inzwischen hat sich der Industriestrompreis für deutsche Unternehmen seit Ausbruch des Kriegs verdoppelt. Der Vergleich mit der US-amerikanischen Konkurrenz offenbart die ganze Dramatik der Situation: Der aktuelle Industriestrompreis in Deutschland liegt bei etwa 18 Cent pro Kilowattstunde für Unternehmen ohne Vergünstigungen und bei rund 12 Cent/kWh für Unternehmen mit Vergünstigungen. US-Betriebe zahlen zwischen 3 und 4 Cent pro Kilowattstunde, was etwa einem Drittel bis einem Viertel der deutschen (subventionierten) Preise entspricht.

Der Kostendruck schlägt sich inzwischen in harten Zahlen nieder. Werksschließungen wie bei BASF oder die angekündigten Produktionsstopps bei Volkswagen gehen mit dem Verlust von zehntausenden Arbeitsplätzen einher. Allein im vergangenen Jahr verlor der Standort Deutschland rund 65 Milliarden Euro an Direktinvestitionen ans Ausland. Ein großer Teil dieses Kapitals dürfte in die USA geflossen sein. Dort treibt die Regierung mit Hochdruck das wirtschaftliche Comeback voran – durch niedrigere Steuerlasten, Deregulierung und den gezielten Einsatz von Importzöllen.

Flankiert wird diese Politik mit Deregulierung und Beschleunigung der Genehmigungsverfahren im Ausbau fossiler Brennstoffe sowie der Nuklearkraft. Die Abkehr von einer ideologisierten Energiepolitik könnte den USA einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil in den kommenden Jahren eingebracht haben, während sich Brüssel energiepolitisch in einem Geflecht aus grüner Ideologie und moralischem Sendungsbewusstsein gegenüber Russland ins Abseits stellt.

Die Umsetzung dieser Roadmap ist jedoch mit erheblichen Herausforderungen verbunden. Vor allem die rechtlichen Hürden stellen ein großes Risiko dar. Brüssel kann bestehende Verträge mit russischen Lieferanten wie Gazprom nur unter Berufung auf höhere Gewalt (Force majeure) oder Härtefallklauseln auflösen. Da russische Anbieter – insbesondere über die Trasse TurkStream – bislang weitgehend zuverlässig liefern, dürfte Brüssel an dieser Stelle vor einer komplizierten rechtlichen Hürde stehen. In der Folge drohen langwierige und kostspielige Rechtsstreitigkeiten, die man in Brüssel eigentlich vermeiden will.

Die Luft für die europäische Industrie wird dünner. Während EU-Entscheidungsträger in Brüssel von „strategischer Autonomie“ und „klimapolitischer Verantwortung“ sprechen, verlagert sich das industrielle Geschehen des Kontinents durch anhaltenden Kapitalabfluss stillschweigend über den Atlantik. Der Preis für ideologische Energiepolitik ist nicht nur wirtschaftlicher Niedergang – wir werden weiterhin mit wachsender Fragilität fundamentaler Systeme wie der Energieversorgung und schleichendem Wohlstandsverlust leben müssen. Wer glaubt, dass man mit moralischer Überlegenheit Stahl kocht und Fabriken wirtschaftlich betreiben kann, dürfte sich bald eines Besseren belehrt sehen.

Thomas Kolbe, studierter Volkswirt, arbeitet seit über 25 Jahren als freiberuflicher Autor sowie als Medienmacher für Kunden aus verschiedenen Branchen und Wirtschaftsverbänden. Als freier Publizist widmet er sich schwerpunktmäßig ökonomischen Prozessen und beobachtet geopolitische Ereignisse aus dem Blickwinkel der Kapitalmärkte.

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