Die Rekonstruktion Europas: Selbstbehauptung statt Selbstauflösung

vor etwa 6 Stunden

Blog Image
Bildquelle: Tichys Einblick

Den radikalen Varianten des Dekonstruktivismus geht es um das Aufgehen des Westens in der bunten Diversität unterschiedlicher Weltkulturen. Gemeinsam ist ihnen die Aufhebung des Westens in globalen Kategorien der Klimareinheit und Gleichheit aller denkbaren Identitäten. Allenfalls darf ein Regenbogen-Westen überleben, in dem seine einst christlich-bürgerlichen Werte von neuen woken Werten abgelöst worden sind.

Die geradezu widernatürliche Selbstverleugnung der eigenen Interessen an billiger Energie und industriellem Wohlstand gerinnt aus dem Heilsversprechen einer global heilen Welt. Um diesen Hoffnungen Nachdruck zu verschaffen, werden apokalyptische Unheilsbotschaften wie insbesondere der globale Klimawandel – oder auch der Russe vor Berlin – mobilisiert und jeder Unglaube an diese Botschaft als Leugnung des Heilsgeschehens gebrandmarkt.

Dieser nunmehr als Globalismus auftretende Utopismus umgreift eine vormals ideologisch für undenkbar gehaltene Koalition zwischen ultraliberalen Entgrenzern der Handelsgrenzen, physischen Landesgrenzen und Geschlechtergrenzen sowie sich – in stalinistischer Diktion – „antifaschistisch“ nennenden Feinden der widerstehenden alten Akteure. Dieser ideologische Strom wurde in seiner Breite so mächtig, dass er die Reste linken Klassendenkens sowie selbst der einst bürgerlich-konservativen Kräfte mit sich fortgerissen hat.

Allen Globalimus-Anhängern gemeinsam ist die Dekonstruktion lokal oder national begrenzter Interessen. Durch konkrete Bedrohungen wie Bevölkerungsschwund, islamische Migration und Deindustrialisierung stößt dieser politisch-kulturelle Dekonstruktivismus heute an seine Grenzen. Das Vordringen von sogenannten Rechten, das heißt die Selbstbehauptung des Eigenen fordernden Kräften, ist eine selbstverständliche dialektische Konsequenz. Je mehr die Ideologie von „No border – no nation!“ schon eine Gegenwehr verhindert, desto stärker werden diese Kräfte werden.

Die Globalismus-Anhänger sind darüber bereits derart in die Defensive geraten, dass sie sich nur noch mit der Dämonisierung Andersdenkender zu verteidigen vermögen. Dieser Machtkampf hat längst die hilflos beschworenen Links-Rechts-Kategorien in den Schatten gestellt.

Die anmaßenden Universalisierungs- und Hegemonieansprüche des Westens haben diesen überdehnt und überfordert. Ihren dramatischen Schlusspunkt erreichen sie mit der Entneutralisierung der Ukraine und Georgiens, womit sie die Einflusssphäre und Sicherheitsinteressen Russlands und die allein noch mögliche multipolare Weltordnung in Frage stellten.

Die selbst die eigene industrielle und physische Existenz gefährdende Russlandpolitik erklärt sich nicht zuletzt aus Selbsthass, sowie auf den dem woken Universalismus entgegenstehenden Putinismus. Die Aggressionen des muslimischen Aserbaidschan gegen das christliche Armenien oder die Gräueltaten gegen Christen in Afrika haben dem gegenüber kaum Aussicht auf Wahrnehmung und Verurteilung, da sie – von Muslimen verübt – nicht in die antiwestlichen Kategorien passen.

Gegenüber dem Kampf der nördlichen Mächte ist der Islam der lachende Dritte. Ohne Panzer und Drohnen dringt er in die geistig-kulturell und zuvor bereits demografisch entgrenzten Staaten Europas vor. Wie wenig die Eliten Europas dies begreifen, zeigt sich an der Syrienpolitik der Europäischen Union. Brüssel freut sich über die Vertreibung des Diktators Assad und bemerkt nicht, dass damit einem blutrünstigen Dschihadismus zur Macht verholfen wurde.

Es bemerkt auch nicht den damit verbundenen Vormarsch des neo-osmanischen Nato-Mitglieds Türkei, welches sich immer deutlicher als trojanisches Pferd der Muslimbruderschaft im Westen entpuppt. Diese Blindheit des Westens gegenüber seinen Feinden ist wiederum nur aus der jahrzehntelangen Dekonstruktion kultureller Bildungsinhalte erklärbar, indem nicht die Selbstbehauptung einer Gemeinschaft, sondern deren Selbstauflösung im Mittelpunkt stand.

Für eine realistische Außenpolitik müsste daher die Unterscheidung von Autoritarismus und Totalitarismus rekonstruiert werden. Die größte Gefahr für die Freiheit geht nicht vom autoritären Russland, sondern vom wesensgemäß totalitären Islam aus. Der alte Kampf der Mächte und Kulturen wird von einem neuen Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei überwölbt. In diesem Kampf sollte der Westen mit autoritären Mächten wie Russland und China kooperieren, um der Barbarei des islamistischen Totalitarismus widerstehen zu können.

Die nachkommunistischen Länder Mitteleuropas verspüren hingegen keinen Drang zur Selbstauflösung des Westens, nachdem sie ihre Zugehörigkeit zu ihm jahrzehntelang herbeigesehnt hatten. Das vor allem von Ungarn verfochtene Paradigma einer Selbstbehauptung des Eigenen greift nach und nach auf andere europäische Demokratien über. Auch Sozialdemokraten in Dänemark wollen ihren Sozialstaat vor einer zügellosen Migration retten. In Italien sitzen angebliche „Postfaschisten“ in der Regierung, in den Niederlanden regiert der „islamophobe“ Geert Wilders mit. In Frankreich und Deutschland – vielleicht liegt es an ihrer Größe – sind die Zeichen der Zeit bisher nur von Minderheiten verstanden worden.

Die USA haben sich mit der Wahl von Donald Trump gegen die eigene Dekadenz aufgebäumt. Die Parole ›Make America Great Again‹ bringt das Ziel einer Rückkehr zu den besseren Elementen unserer Kultur auf den Punkt. Angesichts der Auflösungsprozesse findet der klassische Konservatismus nicht mehr viel vor, was noch konserviert werden könnte. Benötigt wurden konservative Revolutionäre, die erst die besten Elemente der alten Ordnung rekonstruieren müssen, um sie dann bewahren zu können.

Die Abkehr von globalistischen Projekten wie etwa der Welthandelsorganisation und dem Pariser Weltklimaabkommen ist eine womöglich letzte Chance für den Westen: Mit effektivem Grenzschutz, der Beendigung der Förderung von Regenbogenkultur an den Universitäten, einer klaren Positionierung für die israelische Zivilisation gegen die sie umbrandende Barbarei, mit Zöllen als Mittel zur Ordnung der Wirtschaft und Versuchen zum Aufbau einer multipolaren Weltordnung.

Da sich Russland selbst den westlichen Sanktionen gegenüber als resistent erwiesen hat, konnte es seinen Rang als Weltmacht behaupten. Dem Westen wird nichts anderes übrig bleiben, als die Koexistenz verfeindeter Mächte des Kalten Krieges zu rekonstruieren. In den selbst in Weltmachtkategorien denkenden USA wurde dies begriffen.

In einer weit mehr multipolaren als multilateralen Welt erleben wir in Washington eine Rückkehr zur Geopolitik, die Großmächte anders beurteilt als Kleinmächte und daher auf die Gegebenheiten der Geographie und kulturellen Grenzen Rücksicht nimmt. In einer multipolaren Welt müssen die Mächte ihre Einflusssphären respektieren und trotz gegensätzlicher ideologischer Ausrichtung miteinander koexistieren.

Sie dürfen sich nicht gegenseitig in Frage stellen und vor allem nicht in den Vorgarten der konkurrierenden Großmacht vordringen, wie es im Falle der Entneutralisierung der Ukraine durch westliche Akteure geschah. Der Paradigmenwandel von Donald Trump – weg von der Universalisierung westlicher Werte – will eine Koexistenz der Großmächte in einer multipolaren Ordnung. Trump rekonstruiert damit erfolgreiche machtpolitische Strategien wie die des Wiener Kongresses von 1815 und des Kalten Krieges, die die damalige Welt zu stabilisieren halfen, indem man sowohl die Grenzen des Feindes respektierte als auch die eigenen Grenzen schützte.

Selten war Hegels Beobachtung von der „List der Geschichte“ treffender als hinsichtlich der Karriere des heutigen US-Vizepräsident J.D. Vance. Er hatte als junger Autor die Dekonstruktion der Industriearbeiterschaft im Mittleren Westen in seinem Buch „Hillbilly Elegie“ beschrieben und analysiert.

Während die Global Player der neuen Technologien Entgrenzungen feierten, blieben den Local Playern nach dem Verlust ihrer Arbeit und Identität nur billigere Konsumgüter und staatliche Sozialhilfen und damit eine seelische Demoralisierung, die selbst in einst bürgerlichen Milieus eine Drogenszene zu verbreiten half.

Vance verbindet seine Appelle gegen die sozial ruinösen Folgen des Globalismus mit der notwendigen Rekonstruktion christlicher Werte. Der zum Katholizismus konvertierte J. D. Vance bemüht die auf Augustinus und Thomas von Aquin zurückgehende „Ordo amoris“ als Leitbild einer Realpolitik, die sich zuerst um die Seinen, dann um die Kommune, den eigenen Staat und – auf dieser Grundlage – erst danach um weitergehende, immer abstraktere Kategorien wie eben jener von der „einen Menschheit“ kümmert.

Der allumfassenden Liebe ersatzreligiös-globalistischen Schwärmertums wird damit eine abgestufte Verantwortungsethik entgegengehalten. Wer als Globalismus-Anhänger die Reihenfolge umdreht, betrügt die Menschen um ihre Rechte im Nahraum. Globales Denken führt lokalen Ruin herbei, was sich etwa in dem Zustand der Infrastruktur in Deutschland unschwer erkennen lässt.

Die Grenzen der Europäischen Union sind nach Süden offen bis zur Schutzlosigkeit gegenüber dem vordringenden Islam und nach Osten durch das offensiv agierende Nato-Bündnis bis in die russische Machtsphäre hinein überdehnt. Die Wiederherstellung der Doktrin des Kalten Kriegs von Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung ist im Gegensatz zu den USA unter Trump in Brüssel noch nicht verstanden worden. Mit ihrem Glauben, an ihrem progressiv-globalistischen Wesen müssten Russland, China, die islamische Welt und nunmehr auch noch die USA genesen, übernimmt sich Europa bis hin zur Lächerlichkeit. Es wird sich nach und nach dem Paradigmenwandel der Weltpolitik beugen müssen. Je später, desto größer wird der Schaden sein.

Die Selbstüberschätzung der Westeuropäer beginnt schon beim Namen. Wie selbstverständlich setzen sich die Vertreter der Europäischen Union mit Europa gleich. Dabei ist schon die religiös-kulturelle Trennung Europas in ein westliches und ein orthodoxes Christentum grundlegend für ein einerseits exzessives und andererseits überaus skeptisches Freiheitsverständnis. Die geplante Ausdehnung der Europäischen Union bis in teils muslimische Balkanstaaten und in die russische Einflusssphäre (Ukraine, Georgien) überdehnt bereits die kulturelle Zusammengehörigkeit in einer Weise, dass die Ausdehnung mit der Auflösung der EU einherzugehen droht.

Solange globalistische Europäer schon die Behauptung ihrer kulturellen Identität als politisch illegitim erachten, werden sie sich nicht verteidigen können. Die Europäische Union wird nur eine Zukunft haben, wenn sie ihre kulturellen und politischen Grenzen erkennt und dann zu beschützen in der Lage ist. Selbstbehauptung setzt sowohl Selbstbegrenzung nach innen als auch Stärke nach außen voraus.

Eine integrierte Europäische Verteidigungsgemeinschaft wäre über ein gemeinsames Oberkommando herstellbar. Dieser enorme Machtzuwachs – vergleichbar mit dem einer gemeinsamen Handelspolitik – müsste durch Dezentralisierung anderer Felder zugunsten der Nationalstaaten kompensiert werden. Die unsinnige Alterative eines Ja oder Nein zu Europa würde in der Dialektik einer Vielfalt nach innen und gleichzeitigen Einheit und Stärke nach außen aufgehoben.

Prof. Dr. Heinz Theisen, Jahrgang 1954, lehrte bis 2020 Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und an Universitäten im Nahen Osten. Er arbeitet als freier Autor unter anderem für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Tichys Einblick“ und „Die Neue Ordnung“. Schwerpunkte sind: die Rolle des Westens in der neuen Weltordnung, Konflikte der Kulturen, Europa und der Nahe Osten. Sein Werk „Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“ ist im TE Shop erhältlich.

Publisher Logo

Dieser Artikel ist von Tichys Einblick

Klicke den folgenden Button, um den Artikel auf der Website von Tichys Einblick zu lesen.

Weitere Artikel