
„Wie sollen wir denn mit denen ins Gespräch kommen, wenn wir uns gar nicht mit ihnen hinsetzen?“, fragt Bodo Ramelow am 1. Mai auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover. Anlass ist seine „Bibelarbeit“ zum Thema „Mut zum Widerspruch“. Nachdem er und seine Gesprächspartnerin, die Musikerin Nina Brunetto, zwanzig Minuten lang darüber gesprochen haben, dass man niemanden ausschließen solle, Menschen nicht in „nützlich“ und „weniger nützlich“ einteilen dürfe, und dass es eine „Insel der Vernunft“ brauche, erinnert er selbst daran, dass er sich auf einem früheren Kirchentag gegen die Teilnahme der AfD bzw. von AfD-Politikern ausgesprochen habe.
Selbstkritik? Aber nicht doch! Ramelow erweist sich vielmehr als Meister der Manipulation: In angenehm pastoraler Tonlage, ruhig und bedächtig Betroffenheit und echte Besorgnis mimend, dient die Frage lediglich als Finte. Die Selbstrechtfertigung folgt sogleich: Die andere Ebene sei schließlich, „dass der andere auch zuhören muss, zuhören will“.
Ein Manipulator unterstellt ganz einfach der Gegenseite pauschal Unwillen, und kann darauf hoffen, dass beim ebenso selbstgerechten Publikum die pseudo-selbstkritische Frage ausreicht, um als inklusiv, ausgleichend und fair wahrgenommen zu werden. Eine Rechnung, die natürlich aufgeht, weil das Kirchentagspublikum von Ramelow genauso wahrgenommen werden möchte, wie dieser sich gibt: Man will offen und gerecht sein – oder besser gesagt: wirken –, aber nicht das tun, was tatsächlich Offenheit und Gerechtigkeit entspräche.
Besseren Anschauungsunterricht über die negativen praktischen Auswirkungen der protestantischen Theologie, die „allein den Glauben“ als notwendig, und „Werke“, also das Handeln, als unnötig betrachtet, kann es kaum geben: Der Glaube an die eigene „Gutheit“ reicht aus, gutes Handeln unterbleibt, und es unterbleibt natürlich vor allem dort, wo man es als unangenehm empfindet. Und mit „Rechten“ reden? Das ist unangenehm, schließlich verlässt man damit die eigene Komfortzone.
So gelingt die Quadratur des Kreises, sich als offen darzustellen, während man unter sich bleibt – ein Freundschaftsdienst der Politiker, die das Forum, das der Kirchentag bietet, nutzen, um sich medienwirksam zu inszenieren. Dabei könnten Christen auf 2000 Jahre Erfahrung zurückgreifen, die sie lehrt, dass immer Obacht geboten ist, sobald die Obrigkeit die Kirche nicht mehr als Korrektiv, sondern als Projektions- und Werbefläche betrachtet.
Doch die Prämisse, dass mit allen zu reden sei, bloß nicht mit den Falschen, ist gewissermaßen ganz offiziell Linie und Agenda des Kirchentags: Schon zum Auftakt des Kirchentags am Mittwochabend hatte Kirchentagspräsidentin Anja Siegesmund zum Engagement gegen den „wiedererstarkenden“ Rechtsextremismus aufgerufen, und in diesem Kontext betont, dass von Sätzen wie „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ eine Gefahr ausgehen könne; man dürfe ihnen nicht auf den Leim gehen.
Die Problematik dieser Haltung liegt freilich keineswegs darin, „Rechte“, Rechtsextreme oder Donald Trump zu kritisieren. Das Problem ist vielmehr, dass diese Art von Kritik wohlfeil ist, und vor allem die eigene Selbstgerechtigkeit zum Ziel hat. Man ist so wenig um die Sache an sich bemüht, dass regelmäßig gar nichts tatsächlich Kritikwürdiges zur Sprache kommt, sondern Plattitüden, Gemeinplätze und sogar Desinformation, die handfeste und notwendige Kritik ersetzen sollen.
So ist der Evangelische Kirchentag im Grunde ein „Safe Space“ für alle: Wer der politischen Agenda und den ideologischen Vorgaben der Kirchentagscommunity nicht entspricht, darf zwar nicht mitmischen, muss sich aber auch keiner womöglich berechtigten Kritik stellen: Er kann mit Fug und Recht im Glauben bleiben, alles richtig zu machen, da ihn die „links-grün versifften Gutmenschen“ ausgrenzen. Und jene wiederum können sich wohlfühlen in der Gewissheit, gerade in der Ausgrenzung Andersdenkender die eigene Dialogbereitschaft zu beweisen.