
Um es in einem Satz zu sagen, das Land wurde in den letzten Wochen Zeuge der gigantischen Show-Veranstaltung: „Wer wird Koalitionär?“ Im Wesentlichen wurde das Sondierungspapier nach dramatisierten Verhandlungen zum Koalitionspapier erklärt. Unklar, was solange beraten werden musste. Die größte Anstrengung der Unterhändler von SPD und Union dürfte darin bestanden haben, lange zusammenzusitzen, Sudokus zu lösen und den heiteren und sorglosen Gesichtsausdruck kurz vor dem Verlassen des Konferenzraumes in eine angestrengte und besorgte Miene zu verwandeln und sich dabei das Lachen zu verkneifen. Der arglosen CDU-Basis wird erklärt, dass man hart verhandelt hat, aber es nun nicht so schlimm kommen wird, wie es bereits drohte.
Stimmt, so schlimm kommt es nicht, es kommt noch schlimmer. Teile der bröckelnden CDU-Basis wird die Beruhigungspille des Parteivorstandes schlucken, auf sie kommt es ohnehin nicht an, wie Friedrich Merz gerade gegenüber der ZEIT erklärt hat. „Ja, an der Basis der CDU gibt es Unruhe …Aber in der Führung der Partei und der Fraktion sind Geschlossenheit und Entschiedenheit in den letzten Tagen eher gewachsen.“ Wie schön für Merz, wenn die führenden Genossen, Verzeihung Parteifreunde, Geschlossenheit zeigen. Das war auch im Stalinismus das höchste Gut, die Einheit und Geschlossenheit der Partei, der demokratische Zentralismus.
Apropos Stalinismus, Andersdenkende wurden dort der Geschlossenheit halber als „rechte Abweichler“ gebrandmarkt. Und auch Friedrich Merz schätzt ein: „Es gibt mittlerweile einen bestimmten Ton, auch in der Kritik von rechts außen an meiner Person, den nehme ich offen gestanden nicht mehr ernst.“ Muss er nicht, er wird Kanzler – und geht, wenn er Deutschland und die CDU an die Wand gefahren hat, vielleicht nach Brüssel.
Wie heißt es im Koalitionsvertrag: „Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und Fake News sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Wer also Meinungen hegt, die Friedrich Merz nicht mehr ernst nimmt, aber im Ernst verfolgen will, weil sie dem „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, der Einheit zwischen Volk und Regierung schaden, bedroht die Demokratie. Das ist Orwell in Reinkultur: Wer für die Meinungsfreiheit eintritt, bedroht die Meinungsfreiheit, wer, wie es im ÖRR inzwischen heißt, „meckert“, wer Diskussionsorgien anzettelt, bedroht die Demokratie.
Kritik an der Regierung wird künftig nur nach den Maßgaben der Regierung gestattet. Witze, politische allzumal, die nicht die „Meckerer“, die „Hetzer“, die „rechten Populisten“, sondern die Regierung und Friedrich Merz oder Lars Klingbeil zum Ziel haben, wird man wohl verbieten. Denn wie heißt es im Koalitionsvertrag: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Doch der Witz ist die ästhetische Form der „falschen Tatsachenbehauptung“, und ihn zu erzählen, stellt ihre „bewusste Verbreitung“ dar.
Das Urteil gegen den Journalisten, der ein satirisches Meme über Nancy Faeser verbreitet hat, belegt, dass das alles andere als eine Übertreibung ist. Übrigens entscheidet künftig die Regierung darüber, was eine falsche Tatsachenbehauptung ist, denn: „Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.“ Staatsfern mag die Medienaufsicht zwar sein, aber nicht regierungsfern, denn über deren personelle Zusammensetzung entscheiden letztlich die Parteien in den Parlamenten.
Natürlich muss zur Perfektionierung der Zensur, der „Digital Services Act (DSA) … stringent umgesetzt und weiterentwickelt werden, systemisches Versagen muss in einem abgestimmten Verfahren mit der EU-Kommission Konsequenzen haben“. Wahlen kann man, siehe Rumänien, wenn die Ergebnisse nicht genehm sind, für ungültig erklären, weil „unsere Menschen“ von der Desinformation der Feinde verführt wurden. Für den Kampf gegen den politischen Feind, das sind inzwischen, nachdem die Union die Mitte geräumt hat, alle rechts der SPD und der Grünen, und zur Aufrechterhaltung der Diskursherrschaft der Rotgrünen werden wohl noch mehr Steuergelder ausgegeben, Institutionen ausgebaut und letztlich der NGO-Staat weiter vertieft werden.
Zwar hatte die Union vor der Wahl Fragen zur Staatsfinanzierung der NGOs gestellt, doch beantwortet die Union nach der Wahl die Fragen nun selbst, weil sie die Finanzierung der roten und grünen NGOs noch vergrößern wird: „Wir bauen die Forschung zu Desinformationsaktivitäten aus“, heißt es beispielsweise. Die Freiheit der Literatur und des Buchmarkts werden massiv dadurch eingeschränkt, dass ein Subventionsmarkt für Verlage mit rotgrüner Ausrichtung geschaffen wird: „Zur Sicherung der Vielfalt auf dem Buchmarkt werden wir mit den Ländern eine strukturelle Verlagsförderung prüfen.“ Suhrkamp, Hanser, Klett Cotta, C.H. Beck und natürlich Kiepenheuer und Witsch werden sich darüber freuen.
Auch die Wissenschaftskommunikation soll künftig gesteuert und ideologisch überwacht werden: „Wir gründen eine unabhängige Stiftung für Wissenschaftskommunikation und -journalismus.“ Denn: „Was die Feinde der Demokratie angeht, gilt der Grundsatz ‚Null Toleranz‘.“ Und wer der Feind unserer Demokratie ist, bestimmen natürlich wir. „Es ist die gesamtstaatliche und gesellschaftliche Verantwortung, jedweder Destabilisierung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegenzuwirken und dabei auch unsere Sicherheitsbehörden nicht allein zu lassen. Wir schützen die demokratische Integrität unserer Parlamente, des öffentlichen Dienstes und der Justiz.“ Bürger kommen nicht mehr vor. Dass der Grundsatz „Null Toleranz“ sehr nach der Devise klingt: Gefangene werden nicht gemacht, fällt den künftigen Inquisitoren nicht einmal auf.
Das Ziel dieser Maßnahmen zur verwehrten Demokratie definieren die künftigen Koalitionäre stattdessen so: „Im Äußeren greifen die Gegner unserer liberalen Demokratie unsere Freiheit an … Wir erleben hybride Angriffe auf unser Land mit dem Ziel, den Zusammenhalt in Deutschland zu zerstören, unsere Demokratie zu untergraben und unsere Sicherheit zu gefährden. Aber auch in unserem Land wird die Demokratie von ihren Gegnern täglich angegriffen.“ Die alte „revolutionäre Wachsamkeit“ wird wiederbelebt, denn der Feind schläft nicht und unterwandert mit Bits und Bytes „unsere Demokratie“ und unsere „Freiheit“. Die Demokratie und die Freiheit, die Deutschlands dysfunktionale Eliten gekapert haben, sie gehört jetzt ihnen, wie das Possessivpronomen anzeigt.
Übrigens fiel mir in der Arbeit am neuen Buch folgendes Zitat auf: „Wem eine wirklich glückliche Zukunft unseres Volkes am Herzen liegt, muss diesem Gesetz vorbehaltlos zustimmen. Aufgabe des Gesetzes ist es, einen rücksichtslosen Kampf gegen alle Schädlinge, Saboteure und Banditen zu führen und damit unsere demokratische Entwicklung, unsere Friedenswirtschaft und unseren Wirtschaftsplan zu sichern.“ So sagte es Minister Steinhoff, SED, vormals SPD in der Volkskammer 1950 zur Begründung des Gesetzentwurfes zur Schaffung des Ministeriums für Staatssicherheit. Das Gesetz wurde übrigens auch mit den Stimmen der CDU angenommen.
Im Koalitionsprogramm heißt es: „Wir sind überzeugt, dass wir verstärkt in die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie investieren müssen. Wir unterstreichen die Bedeutung gemeinnütziger Organisationen, engagierter Vereine und zivilgesellschaftlicher Akteure als zentrale Säulen unserer Gesellschaft. Die Unterstützung von Projekten zur demokratischen Teilhabe durch das Bundesprogramm ‚Demokratie leben!‘ setzen wir fort … Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle wird fortgesetzt.“
Die Vorstellungen vom Staat, die das Koalitionspapier zwischen Union und SPD offenbart, können kaum mit den Prinzipien einer pluralistischen Demokratie in Einklang gebracht werden. Hatten nicht die damaligen Koalitionäre, die sich erneut anschicken, eine Koalition zu bilden, selbst und bewusst falsche Tatsachen während der Pandemie behauptet, als sie die Laborthese wider besseres Wissen leugneten und sogar auf diejenigen Druck ausübte, die diese These zur Herkunft des Virus vertraten? Schon damals war dem BND die Wahrheit bekannt.
Der Staat also, so wie sich Merz und Klingbeil das wünschen, ist also die denkbar schlechteste Instanz zu klären, was wahr und was falsch ist. Bereits Juvenal fragte zurecht: „Aber wer bewacht die Wächter?“ Richter und Instanz kann nur der faire und öffentliche Diskurs sein, die res publica bedarf der öffentlichen Verhandlung.
Die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag vorgesehen sind, fördern nicht den freien Diskurs, sondern sind dazu angetan, ihn zu verhindern, der, wie im Koalitionsvertrag beschrieben, Subventionsstaat (keine AKWs, stattdessen Habecks Kraftwerksstrategie, Subventionierung der Stahlindustrie, Dämpfung der Energiepreise nicht durch Senkung der Herstellungskosten, sondern durch Steuer- oder Schuldenmittel) benötigt zur Verschleierung seiner Misserfolge den Gesinnungsstaat. Denn die Wirtschaft wird mit Subventionen auch über einen mittels Subventionen und Interventionen künstlich geschaffenen Markt am Laufen gehalten, solange zumindest die Kreditlinie hält. Letztlich will Merz das Gebäudeenergiegesetz (GEG), das sogenannte Heizungsgesetz, verschärfen, wie er bei RTL direkt äußerte: „Moderator: Sie wollen, dass die Öl- und Gaspreise so steigen, dass die Leute irgendwann sagen, sie können sich das nicht mehr leisten?“ – Merz: „Ja.“
Was heute unter dem Geflecht der NGOs verstanden wird, fasste Gramsci noch als „Klasse“. „Eine Klasse, die sich selbst als geeignet setzt, die ganze Gesellschaft zu assimilieren, und die zugleich wirklich fähig ist, diesen Prozess hervorzubringen, führt diese Auffassung vom Staat und vom Recht zur Vollendung, bis sie schließlich das Ende des Staates und Rechts konzipiert, insofern sie überflüssig geworden sind, weil sie ihre Aufgabe erfüllt haben und von der Zivilgesellschaft aufgesogen worden sind.“
Ein Staat jedoch, „der von der Zivilgesellschaft aufgesogen“ wird, ist kein Rechtsstaat mehr, und freiheitlich ist er ohnehin nicht, weil die Freiheit des Einzelnen den imaginierten Bedürfnissen einer abstrakten Gemeinschaft zu weichen hat. Der Bürger wird zum Untertan. Die Zivilgesellschaft ist der NGO-Staat. Die Abstraktion der Gemeinschaft und deren laboriertes Gemeinwohl ist nur eine Mystifikation der Herrschaft einer postdemokratischen Elite.
Der Koalitionsvertrag setzt die Politik der Ampel in manchen Positionen sogar noch forciert und unter einer Verschuldungsorgie oberhalb der Billionengrenze fort. Darüber dürfte sich der frühere Arbeitgeber von Friedrich Merz, BlackRock, freuen, das deutsche Volk hingegen nicht. Dass Merzens neuer Arbeitgeber das deutsche Volk, der Souverän des Grundgesetzes ist, sein wird, dürfte bei dem CDU-Vorsitzenden unterhalb der Phrasenebene nicht angekommen sein.
Mit Blick auf den Bruch der Wahlversprechen durch die Union und mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen lässt sich ein wirklich demokratisches Verständnis der Union nicht feststellen.
Doch wie heißt es im Koalitionsvertrag: „Als Parteien der politischen Mitte sehen wir uns gemeinsam in der Verantwortung.“ Nur, dass die Union in der Mitte von Rotgrün angekommen ist.