
Vor wenigen Tagen rauschte eine seltsame Meldung durch den Blätterwald: Weil die AfD in Mecklenburg-Vorpommern bei der Bundestagswahl mit 35 Prozent stärkste Partei geworden sei, würden nun reihenweise Touristen ihre geplanten Ostsee-Urlaube absagen. Jetzt stellt sich heraus: Es handelt sich um eine Geschichte aus dem Paulanergarten.
„Ostsee-Urlauber stornieren nach AfD-Wahlergebnis ihre Buchungen: ‚Wir fühlen uns nicht mehr sicher!‘“, vermeldete der Nordkurier. Bild sah im Nordosten gar einen halben Tsunami: „Ostsee-Hotels beklagen Storno-Welle ‚wegen AfD‘“. Zunächst hatte die Ostsee-Zeitung von den Urlaubs-Absagen wegen der AfD berichtet und sich auf den CDU-Bürgermeister von Gnoien im Landkreis Rostock, Lars Schwarz, berufen, der auch Hotelier ist. „Ich bekomme von den Mitgliedern jeden Tag Informationen, dass Gäste mit der Begründung ‚AfD‘ stornieren“, habe Schwarz gesagt, der auch Chef des Mecklenburg-Vorpommerschen Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) ist. Dann schrieben andere Zeitungen die Geschichte ab.
Auch in den sozialen Netzwerken des Internets brachen hitzige Diskussion darüber aus, ob man noch guten Gewissens an die Ostsee fahren könne – schließlich würde man damit höchstwahrscheinlich AfD-Sympathisanten unterstützen, war beispielsweise in der B.Z. zu lesen.
Nur machte sie so gar keinen Sinn. Zunächst einmal sind die meisten Gäste in den Ostseebädern von Mecklenburg-Vorpommern Ostdeutsche. Dann wird laut des Statistischen Amts in Schwerin eine steigende Zahl der Gäste aus dem Ausland registriert. Und: Warum sollten gerade in Zeiten, in denen die Akzeptanz der AfD im Osten und im Westen steigt (bei der Bundestagswahl verdoppelte die Partei ihr Ergebnis von 2021), nun Leute ihren Urlaub dort stornieren, wo sie besonders hohe Zustimmungswerte erreicht?
Die Seebrücke im Ostseebad Sellin auf Rügen bleibt gut besucht.
Außerdem war eben zu lesen, dass das Land 2024 sowohl bei Gästeankünften als auch bei Übernachtungen die zweithöchsten Werte seit der Wiedervereinigung verzeichnete: Demnach reisten im Vorjahr acht Millionen Gäste an und buchten 32,9 Millionen Übernachtungen. Wie soll das zusammenpassen?NIUS fragte beim Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern nach und erhielt von Geschäftsführer Tobias Woitendorf folgende Antwort: Das politische Wahlverhalten und das Reiseverhalten hätten laut Studien und Erfahrungen wenig miteinander zu tun. Woitendorf: „Eine Stornierungswelle aufgrund der Bundestagswahl sehen wir nicht.“
Entsprang die Nachricht reinem Wunschdenken, entstammte sie dem Bedürfnis, potenzielle MV-Touristen abzuschrecken oder wurden die Urheber der Fake-News Opfer der anekdotischen Evidenz?
Tatsächlich wurden zwei, drei halbgare Fälle angeführt, welche die Story von der vermeintlichen Stornierungswelle untermauern sollten: Eine Besucherin aus Lüneburg habe geschrieben: „Wir wollten im März in unserem Lieblingshotel Urlaub machen. Leider ist uns jetzt die Lust vergangen. Wir müssen wohl auf Swinemünde bzw. die Ostsee in Schleswig-Holstein ausweichen.“
Zudem hätte eine Frau am Telefon ihre Buchung storniert, weil sie sich mit ihrem schwarzen Mann „nicht mehr sicher“ auf Usedom fühle. Im familiengeführten 3-Sterne-Hotel „Strandhus“ in Ahlbeck würden seit Sonntag „seltsame“ Anrufe eingehen. Und ein Ehepaar aus Kiel habe erklärt: „Uns erschreckt dieses Ergebnis der AfD in Mecklenburg-Vorpommern. Rechnerisch hat jeder Dritte diese Partei gewählt. Wir wollen mit unserem Fernbleiben ein kleines Zeichen setzen.“ Ob es auffallen würde?
Die Einwohner von Rügen und Usedom, der beliebtesten Ostsee-Inseln für Urlauber, wählen schon länger in großer Zahl die AfD, dennoch verzeichnen sie jeweils weit über eine Million Gäste aus dem In- und Ausland. Die interessieren sich für Mecklenburg-Vorpommerns 2000 Kilometer Küste, mehr als 2000 Seen, Naturschutzgebiete sowie drei Nationalparks mit Buchenwäldern, die in Teilen zum UNESCO-Welterbe gehören, und 1648 Sonnenstunden jährlich – mehr als in jedem anderen Bundesland. Für das Wahlverhalten der Menschen im Nordosten allerdings nicht.
In Stralsund hingen viele AfD-Plakate. Nicht wirklich ein Grund, den Urlaub abzusagen.
Das bestätigte jetzt auch der bereits erwähnte MV-Dehoga-Chef Schwarz: „Es gibt keine Stornowelle“, betont er gegenüber dem Nordkurier. „Ihn ärgere, dass Bild.de einen ersten Artikel veröffentlicht habe, ohne ihn zuvor als Dehoga-Chef zu befragen. Dies habe eine Flut irreführender Berichterstattung ausgelöst“, ist dort jetzt zu lesen. „Die Bildzeitung habe ihn leider erst kontaktiert, als eine Erstfassung der Nachricht von der ‚Stornowelle wegen der AfD‘ schon in Umlauf gewesen sei, berichtet Schwarz. In Wahrheit gebe es ‚keinen messbaren Buchungsrückgang‘“. Es sei sogar umgekehrt: Die Vorbuchungsindikatoren seien positiv, die Branche könne einen „sehr guten Tourismus-Sommer“ erwarten.
Und was ist nun mit den Schauermärchen von Touristen, die „wegen der AfD“ nicht im Nordosten Urlaub machen wollen? Um noch einmal Schwarz zu zitieren: Es stimme zwar, dass bei Ostsee-Hotels vereinzelte Nachfragen eingingen, ob man nach dem AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl Befürchtungen haben müsse, aber solche Fragen gebe es immer wieder und oft bleibe unklar, ob die Absender tatsächlich Hotelgäste seien.Ein paar „seltsame Anrufe“, die Zeichensetzungs-Erklärung eines Ehepaares aus dem Westen, und angebliche Angst um den schwarzen Gatten und eine Besucherin, der aus politischen Gründen die Lust auf Urlaub in MV vergangen sein soll, haben also ausgereicht, um eine Fake-News-Welle loszutreten – Anti-AfD-Geschichten klicken immer gut, Ossi-Bashing auch. In Endlosschleife vor der Partei zu warnen und dann die vermeintliche Angst der Leute zu instrumentalisieren, das ist schon ein interessantes Geschäftsmodell.Nur sollte es eben nicht auf Sand gebaut sein, sonst wird’s peinlich. Sicher ist nur, dass es auch dieses Jahr wieder über zwei Millionen Menschen an die Küste im Osten ziehen wird, Wahlergebnisse hin oder her. Und dass man nicht alles glauben sollte, was in der Zeitung steht, nur weil es die eigenen Vorurteile bedient.
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