
Seit rund einem Jahr beobachtet das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) seinen früheren Chef Hans-Georg Maaßen. Im November 2023 wurde der ehemalige Präsident des BfV als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft. Die Begründung, die das BfV dafür gibt, zeigt beispielhaft, wie der Verfassungsschutz, statt die Verfassung zu schützen, in zunehmendem Maße die Regierung und die sie tragenden Parteien gegen Kritik schützt und insbesondere Kritik an der Migrationspolitik als angeblich verfassungsfeindlich zu delegitimieren sucht.
Der Verfassungsschutz darf eine Organisation beobachten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, also die freiheitliche demokratische Grundordnung oder einen ihrer Bestandteile – das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip oder die Menschenwürdegarantie – beseitigen will. Bis zu einer 2021 in Kraft getretenen Gesetzesänderung konnten Einzelpersonen nur dann Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes werden, wenn sie ihre verfassungsfeindlichen Ziele mit Gewalt erreichen wollten oder wenn ihr Verhalten geeignet war, die freiheitliche demokratische Grundordnung erheblich zu beschädigen.
Seither sind diese Zusatzanforderungen entfallen. Nach der jetzigen Gesetzesfassung kommt es also nicht mehr darauf an, ob die Einzelperson ein Gefährdungspotenzial hat, das demjenigen einer Organisation gleichkommt. Ob diese Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ist umstritten. Da eine Einzelperson – zumal wenn sie gewaltfrei handelt – normalerweise nicht in der Lage sein wird, die Grundfesten der Verfassung zu stürzen, also eine Ein-Mann-Revolution durchzuführen, verschärft die neue Vorschrift die auch schon zuvor in der Praxis des Verfassungsschutzes zu beobachtende Tendenz, nicht potenzielle Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Vorfeld aufzuklären, sondern als verfassungsfeindlich markierte Gesinnungen zu verfolgen.
Wie der Verfassungsschutz als Gesinnungspolizei agiert, lässt sich exemplarisch am Fall Maaßen zeigen. Unter seinem Nachfolger Thomas Haldenwang hat das BfV Hans-Georg Maaßen unter Rechtsextremismusverdacht gestellt und beobachtet ihn. Das BfV wirft Maaßen vor, das Demokratieprinzip und „die Menschenwürde“ beseitigen beziehungsweise außer Geltung setzen zu wollen. So steht es in dem Schriftsatz vom 7.5.2024, mit dem das BfV sich gegen die von Maaßen gegen seine Beobachtung erhobene Klage verteidigt. Die im Folgenden geschilderten Beispiele für die Argumentation des BfV sind diesem Schriftsatz entnommen.
Die Menschenwürde beseitigen oder „außer Geltung setzen“? Das ist tatsächlich und rechtlich unmöglich. Die Menschenwürde ist eine nach dem Grundgesetz „unantastbare“ Eigenschaft jedes Menschen. Sie kann niemandem genommen werden. Sie kann verletzt werden, indem jemand menschenunwürdig behandelt wird. Aber dadurch verliert er seine Menschenwürde nicht. Was das BfV mit „beseitigen“ meint, ist offenbar nicht die Menschenwürde, sondern die Menschenwürdegarantie. Diese ist Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, und sie beseitigen zu wollen, ist verfassungsfeindlich.
Man könnte meinen, auf sprachliche Präzision komme es nicht an, wenn doch deutlich sei, was in der Sache gemeint ist. Aber sprachliche Schlamperei bei der Begründung verführt zu juristischen Fehlentscheidungen. Und von juristischen Fehlbewertungen wimmelt es in der Begründung, die das BfV für die Beobachtung Maaßens gibt.
Eine falsche Weichenstellung in der Argumentation des BfV besteht darin, dass das BfV nicht zwischen mit der Menschenwürde unvereinbaren Meinungsäußerungen und auf die Abschaffung der Menschenwürdegarantie gerichteten Willensbekundungen unterscheidet. Letztere finden sich in der Zitatensammlung des BfV nicht. Nun ist es nicht ausgeschlossen, Meinungsäußerungen, die eine Missachtung der Menschenwürde zum Ausdruck bringen, als Belege dafür zu verwenden, dass die betreffende Person die Menschenwürdegarantie abschaffen will. Aber sie können insofern nur Bestandteile einer Argumentationskette sein, die durch weitere Belege ergänzt werden müssten. Allein aus dem Umstand, dass jemand mit seinem Verhalten ein Schutzgut der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verletzt, lässt sich nicht folgern, dass er dieses Schutzgut beseitigen will.
Es gibt viele Beispiele dafür, dass die Bundesregierung, der Bundestag oder staatliche Verwaltungsbehörden gegen das Demokratieprinzip oder das Rechtsstaatsprinzip, sogar gegen die Menschenwürdegarantie (also gegen Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung) verstoßen haben – und zwar nicht nur verbal, sondern durch hoheitliche Entscheidungen. Nie ist das als Anhaltspunkt für verfassungsfeindliche Bestrebungen des jeweiligen Staatsorgans gewertet worden – zu Recht nicht, denn wenn das Staatsorgan sich durch die Rechtsprechung korrigieren lässt und z. B. ein Gesetz, das vom Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen die Menschenwürdegarantie für nichtig erklärt wird, dann auch als nichtig behandelt und nicht erneut versucht, ein gleichartiges Gesetz durchzusetzen, dann spricht nichts dafür, dass in dem festgestellten Verfassungsverstoß der Wille zur Abschaffung des betreffenden Verfassungsgrundsatzes zum Ausdruck kommt.
Dies muss erst recht für Meinungsäußerungen von Privatpersonen gelten, die inhaltlich mit Wertentscheidungen des Grundgesetzes unvereinbar sind, zumal solche Äußerungen nicht einmal – wie die erwähnten Entscheidungen staatlicher Organe – verfassungswidrig sind, weil das Grundgesetz gar nicht unmittelbar Verhaltenspflichten für Privatpersonen statuierte.
Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen lassen sich aus solchen Meinungsäußerungen daher nur dann gewinnen, wenn zusätzlich Äußerungen oder andere Verhaltensweisen nachgewiesen werden, aus denen sich ergibt, dass die betreffende Person, wenn sie die politische Macht dazu hätte, nicht nur den Meinungsäußerungen entsprechende Verfassungsverletzungen begehen, sondern diese auch dauerhaft unter Missachtung entgegenstehender Gerichtsurteile durchsetzen will. Diese zusätzliche Anforderung an die Bewertung von Meinungsäußerungen als Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen ignoriert das BfV vollständig, obwohl das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont hat, dass „bloße“ Meinungsäußerungen verfassungsschutzrechtlich irrelevant sind.
Die Argumentation des BfV, mit der es die Verfassungsfeindlichkeit von Äußerungen Maaßens belegen will, ist an etlichen Stellen grotesk falsch. Sie belegt nicht verfassungsfeindliche Aktivitäten, sondern kritisiert eine politisch inkorrekte Gesinnung.
Beispielsweise hat Maaßen gesagt, dass mit der großen Zahl von Migranten Menschen aus anderen Kulturen nach Deutschland kämen, „die ganz anders sozialisiert sind“. In arabischen Kulturen werde Gewalt durchaus auch als ein probates Mittel der Konfliktlösung angesehen. „Die jungen Menschen, die zu uns kommen, kennen unsere Normen nicht […], bringen ihr Wertverständnis, ihre Konfliktlösungsmechanismen nach Deutschland, und wir sehen die Konsequenzen tagtäglich bei Messerstechereien.“
Das hält das BfV für menschenwürdewidrig, weil Maaßen sich „rassistischer Stereotype“ bediene und „die Höherwertigkeit der eigenen gegenüber der Minderwertigkeit der anderen Gruppe und Kultur“ zum Ausdruck bringe. Zugleich stelle er „generalisierend Migranten pauschal als Produkt ihrer Kultur und Sozialisation dar“, wobei er den einzelnen Individuen abspreche, sich anders verhalten zu können, als die von ihm „behauptete Kultur und Sozialisation vorgebe“.
Indem das BfV den Hinweis auf solche Kausalitäten als rassistisch und rechtsextrem verunglimpft, versucht es, eine kritische Betrachtung derartiger Zusammenhänge und entsprechende Kritik an der Migrationspolitik der Bundesregierung zu tabuisieren.
Um einen Menschenwürdeverstoß zu begründen, unterstellt der Verfassungsschutz der betreffenden Person Pauschalurteile, die sie nicht gemacht hat. Kulturelle Prägung oder Sozialisation in einer bestimmten Kultur bedeuten nicht, dass die in dieser Kultur sozialisierten Individuen sich nicht anders verhalten könnten. Aber tiefgreifende kulturelle Prägungen können zu Verhaltenswahrscheinlichkeiten führen, die sich in der Statistik bestätigen.
Eine Kurzfassung dieses Textes erschien am 8.1.2025 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). – Professor Dr. Dietrich Murswiek war bis zu seiner Emeritierung Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg im Breisgau. Er ist Autor des Buches „Verfassungsschutz und Demokratie“ (2020).
Lesen Sie in den folgenden Tagen die Folgeteile der Anmerkungen zum Fall Hans-Georg Maaßen.