Flagge zeigen, aber welche?: Wie Pistorius’ Ministerium mit Wokeness ringt

vor etwa 11 Stunden

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Zwischen Tiergarten und Landwehrkanal liegt der Bendlerblock wie ein stolzer, fauler Kater, lang und ausgedehnt. Hier ist der Berliner Ableger des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) zu Hause – formal zwar nicht dessen Hauptsitz, aber doch, so versichert man sich auf den Fluren gerne, der politisch relevantere Teil.

Will man hier einen Hausausweis beantragen oder zu Mittag essen, muss man die Stauffenbergstraße überqueren; wird man innerhalb einer Abteilung versetzt, kann man sich mitunter in Bonn wiederfinden. So ausladend der „Geschäftsbereich BMVg“ einem im räumlichen Sinne vorkommt, so akrobatisch ist auch der politische Spagat, den sein Minister an den Tag legen muss.

Das Bundesministerium für Verteidigung im Bendlerblock am Reichpietschufer in Berlin-Tiergarten.

Boris Pistorius scheint seit langem der erste Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt zu sein, der mit einer entsprechenden Beweglichkeit im Gestus gesegnet ist. Seine Vorgängerinnen (und Vorgänger) sind an dieser Form der Belastbarkeitsprüfung mal knapp, mal spektakulär gescheitert. Deutschlands beliebtester Politiker aber schafft es, mediale Minenfelder zu durchschreiten und als kerniger Sozialdemokrat gleichermaßen ein traditionelleres Publikum anzusprechen, ohne dabei in das Fadenkreuz linker und maximal progressiver Kreise zu geraten.

Angesichts der Tatsache, dass das Ressort einen völlig diffusen, ja geradezu absurd gegensätzlichen Kurs in Fragen der „sexuellen Identität“ fährt – dem Aufreger-Thema unserer Zeit schlechthin – ist dieser Umstand ebenso überraschend wie unerklärlich. In kaum einem anderen Ministerium gibt es ein derartig beständiges Nebeneinander an historischem Fehlverhalten, persönlichen Skandälchen, politischer Possen und der nackten Notwendigkeit, sich wohl oder übel mit Sexualität zu befassen.

Boris Pistorius beim Empfang des ukrainischen Verteidigungsministers Rustem Umerov im Bundesministerium der Verteidigung.

Nicht ohne Grund gibt es drei Dutzend schmissiger Lieder und eine Handvoll Klischees aus zweihundert Jahren, die sich mehr oder weniger um die Soldaten und deren gewisse Sehnsüchte drehen. So weit, so bekannt. Deshalb ist es also gar nicht so verwunderlich, dass sich die Bundeswehr und das für sie zuständige Ministerium irgendwie mit so etwas wie sexueller Identität befassen. Im Grunde tat das deutsche Militär das schon immer, wenn auch eher unter der Hand, nur hatten eben die meisten mehr oder weniger dieselbe sexuelle Identität. In der Truppe wird geübt, geschossen, getrunken, leider auch gestorben und getötet. Soldaten verknallen sich in ein Mädchen daheim oder anderswo, manchmal kommt es zu Liebschaften – das wird in vielen Nationen und in allen deutschen Armeen, trotz ansonsten erheblicher Differenzen, schon immer so gewesen sein.

Die politische Ebene und deren Vorstellungen allerdings weichen nicht nur erheblich voneinander ab, sondern mitunter auch kräftig von der Realität ihrer Soldaten. Das gilt insbesondere für den bürokratischen Mittelbau, also diejenigen, die das Votum irgendwelcher dahergelaufenen Wähler oder Stakeholder getrost und zugunsten eigener genialer Überzeugungen mit geschwellter Brust ignorieren können.

Wie „woke“ also ist das BMVg, wenn es um „LGBTQ“, „Diversity“ und andere Schlagworte geht, wie dissoziiert die Höflinge von der Realität in Bevölkerung und Bataillonen?

Auf der Ebene der politischen Übersprungshandlungen läuft alles, wie man es inzwischen gewohnt ist. Während früher bei der Marine noch Flaggensignale zur Navigation gegeben wurden, setzt heute der Abteilungsleiter persönlich die Regenbogenfahne.

Nachdem Bundestagspräsidentin Julia Klöckner für die gegenteilige Entscheidung aus linken und liberalen Kreisen heftig kritisiert wurde und der Bundeskanzler sich zu der Aussage hinreißen ließ, der Reichstag sei nun einmal kein Zirkuszelt, ist das vonseiten Deutschlands oberster Kriegsbehörde tatsächlich ein starkes Stück (Zufall, dass dieses Haus vom kleineren Koalitionspartner geführt wird?). Einerseits kann man in der Geste tatsächlich ein demonstratives Abgrenzen von der eigenen Vergangenheit sehen, mit der die Bundeswehr sich gerade jüngeren Menschen als gewöhnliches Arbeitsumfeld präsentieren will. Andererseits hat das Verteidigungsministerium schwule Soldaten von 1984 bis zum Jahr 2000 per ministeriellem Erlass unumstritten diskriminiert. Das Umdenken auf ministerieller Ebene ist vermutlich genauso wenig seriös und tiefgreifend wie die Homophobie der 1980er: Wie jedes gute Fähnchen dreht man mit dem Wind.

Eine Regenbogenflagge (l) weht neben der Deutschlandfahne vor dem Bundesverteidigungsministerium. Die Bundeswehr will damit ein Bekenntnis zu Vielfalt und gegen Diskriminierung zum Ausdruck bringen.

Das Sexualleben der Soldaten bleibt dem Dienstherrn als peinliche Komponente aber bis zum heutigen Tage erhalten. Da wäre die transsexuelle Soldatin Anastasia Biefang, die als Offizier auch medial sichtbar für Vielfalt in der Bundeswehr eintritt und mitunter mit skurrilen, aber durch das BMVg sanktionierten Methoden auf das Thema aufmerksam macht. Für ihre offensiv kommunizierte Bereitschaft zu zwanglosem Sex im Internet wurde Biefang wiederum durch einen Vorgesetzten ein Verweis erteilt – in letzter Instanz vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt.

Dazu kommen die kleinen und großen Ärgernisse tausender Soldaten, die sich am Wochenende in den Diskotheken und Online-Foren ihrer Heimatstädte oder Standorte verzweifelt auf die Balz begeben. Erfahrungsgemäß und mit Blick auf frühere Jahrzehnte dürfte mit einer Ausweitung der Wehrpflicht auch dieser Bereich das Anlegen mancher neuen Akten nach sich ziehen.

Boris Pistorius (SPD, r), Bundesminister der Verteidigung, verabschiedet sich nach dem Hissen der Regenbogenflagge am Bundesministerium der Verteidigung von Oberstleutnant Anastasia Biefang (l), erste Transgender-Kommandeurin in der Bundeswehr.

Erst vor wenigen Wochen erschütterte ein Porno-Skandal die Hamburger Bundeswehr-Universität. Während des Besuches amerikanischer Soldatinnen war es seitens der studierenden jungen Offiziere zu Vorfällen gekommen. Der ranghöchste Soldat der Universität, ein Oberst, musste daraufhin seinen Abschied nehmen, persönlich verhindern können hätte er die Vorfälle wohl kaum.

Und dann wäre da noch die Generalität. Hartmut Renk verlor Anfang Mai seinen Posten bei der NATO, weil er sich während eines Meetings sexistisch geäußert haben soll (ebenfalls in Anwesenheit einer amerikanischen Soldatin). Und während sich dieser Tage manche Experten als General der Armsessel inszenieren, könnte man Andreas Hoppe analog als General der Bettkante bezeichnen. Dessen öffentlich gewordenen Liebesaffären zu mehreren Frauen waren ihm und dem Ministerium letztlich so unangenehm, dass seinem Wunsch um die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand kürzlich entsprochen wurde.

All das klingt so gar nicht nach dem respektvollen und sexpositiven Umfeld, das den treibenden Kräften hinter dem Hissen der Regenbogen-Flagge sowie interner Schulungen so vorschwebt, und hierbei handelt es sich lediglich um eine knappe Auswahl der prominenteren Fälle aus dem laufenden Jahr. Dass in der Bundeswehr inzwischen 24.000 weibliche Soldaten dienen, die meisten von ihnen allerdings nach wie vor in der Sanität und in „Bürojobs“, hat die Lage nicht unbedingt entspannt. Einerseits scheint die Bundeswehr bei ihrer Personalgewinnung junger Frauen für den Dienst an der Waffe ans Ende der Fahnenstange gelangt zu sein und kann die Frauenquote nicht mehr wirklich vergrößern. Umso mehr wirbt sie damit, nicht nur für Jungs, sondern auch für Mädels ein attraktiver Arbeitgeber sein zu können. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Jungs und Mädels einer Kompanie gar nicht so sehr den Arbeitgebern, vor allem aber einander ziemlich attraktiv finden – mit den üblichen Folgen.

Eine Soldatin des Wachbataillons der Bundeswehr tritt an zu einem Empfang im Bendlerblock in Berlin.

Man könnte es angehen wie der ebenfalls recht neue US-amerikanische Verteidigungsminister Pete Hegseth, der den Kulturkampf mal mehr, mal weniger elegant von rechts führt und sich bei jeder Gelegenheit darüber äußert, dass im Pentagon die Zeiten der Diversitäts-Agenda nun endgültig vorbei seien. Seine Äußerungen, Männer und Frauen sollten nicht zusammen in denselben Kampfeinheiten dienen oder die körperlichen Anforderungen sollten sich am Auftrag, nicht aber am Geschlecht der Bewerber orientieren, haben selbst hierzulande für Aufregung gesorgt – selbst unter denjenigen, die noch nie eine Kaserne von innen gesehen haben. Also keine Option für Pistorius.

Der geht geschickt vor. Einerseits überlässt er die Kontroversen anderen, was man gerechterweise auch als Vertrauen in seine Untergebenen verstehen könnte. Andererseits verlässt er sich auch auf die mediale Logik. So hat es niemanden interessiert, dass Pistorius Regierungsmannschaft der Staatssekretäre im Verteidigungsministerium ausschließlich aus Männern besteht, während andere Ressorts Richtung Fifty-Fifty streben. Daneben diskutiert die Presse, ob der hypothetische Wehrdienst nicht hypothetisch auch für Frauen gelten sollte. Pistorius will gleichzeitig den Einfluss der inzwischen dreistelligen Anzahl an Gleichstellungsbeauftragten stärken und lässt dabei den Zeloten in seinem Mittelbau zumeist freie Hand.

Mit Generaloberstabsarzt Nicole Schilling befördert er erstmalig in der Geschichte der Bundeswehr eine Frau zur stellvertretenden Generalinspekteurin, sie folgt also Hoppe in dessen frei gewordenes Amt nach. Ob er mit Annette Lehnigk-Emden, der Präsidentin des dysfunktionalen Beschaffungssamtes der Bundeswehr, womöglich auch die erste Reißleine einer weiblichen Spitzenkraft wird ziehen müssen, wird sich zeigen. Wahrlich geschlechtergerecht wäre es allemal.

Lesen Sie auch von Chris Becker: Warum auch bei der neuen Bundesregierung außenpolitisch kein strategisches Denken erkennbar ist

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