
Worum handelt es sich? Ist Taurus eine Rakete, Drohne, ein „Marschflugkörper“, ein Geschoss? Die technischen Daten sind leicht zugänglich, und an einem fiktiven Szenario soll hier demonstriert werden, was auf dem Spiel steht.
Der Taurus ist ein Flugapparat, so lang (5 m) und so schwer (1,5 t) wie ein größeres Auto, mit einer Spannweite von 2 Metern. Mit solchen Stummelflügeln würde der schwere Apparat bei rollendem Start niemals vom Boden abheben. Deshalb wird er unter ein Flugzeug gehängt, etwa eine McDonnell Douglas F-15, und dann bei hoher Geschwindigkeit (ca. 900 km/h) ausgeklinkt. Jetzt ist er ein autonomes Flugzeug, mit Autopiloten, Navigationssystemen und einer halben Tonne Sprengstoff an Bord. Die genauen Zielkoordinaten samt Route sind bei der Einsatzplanung am Boden programmiert worden. Angetrieben wird der Taurus von einem “Turbofan“ mit 7 kN Schub; diese Kraft entspricht etwa der Hälfte seines Gewichts. Turbofans treiben in größerer Ausführung, und für eine längere Lebensdauer ausgelegt, auch unsere Airliner an.
Der Treibstoff reicht für einen 45-minütigen Flug, das ergibt gut 500 km. Und noch etwas: der Taurus ist in der Lage, sein Ziel zu erkennen. Er hat ein dreidimensionales digitales Modell davon gespeichert und vergleicht es beim Anflug mit dem, was seine Kamera sieht. Und was würde passieren, wenn er sein Ziel nicht zu Gesicht bekäme? Dann fliegt er weiter zu einem vorprogrammierten Ort, an dem er sich schadlos selbst in die Luft sprengt.
Wie sähe nun ein Taurus-Einsatz in der Praxis aus? Drehen wir dazu den Spieß um: Nehmen .wir an, auch Russland hätte so einen Taurus zur Verfügung (dort hat man die Kh101 und Kh102, die sind etwas schwerer, mit größerer Reichweite und auf Wunsch mit nuklearem Sprengkopf erhältlich). Von der Luftwaffenbasis Levashovo bei St. Petersburg startet eine Suchoi 57 mit einem Taurus unter dem Rumpf, nimmt Kurs nach Westen und steigt auf die übliche Flughöhe. Bald ist sie über der Ostsee und wird auf den Radarschirmen der estnischen und finnischen Luftüberwachung sichtbar. Für die ist das keine Überraschung, denn russische Piloten machen hier gerne ihre „Dogfights“.
Eine halbe Stunde später dreht die Suchoi nach Südwesten und setzt ihren Flug über Wasser fort. Nach einer weiteren halben Stunde, in der Nähe der Insel Bornholm, drückt der Pilot einen roten Knopf. Für den Taurus ist es das Signal, sein Triebwerk anzulassen und sich auszuklinken, worauf die Suchoi eine steile 180° Wende macht und wieder nach Hause fliegt.
Der Taurus ist jetzt auf sich allein gestellt. Als Erstes verlässt er seine Flughöhe und geht in steilem Sinkflug auf 10 oder 20 Meter über dem Wasser. Jetzt ist er unter dem Radar. Eine ganze Palette von Systemen zeigt ihm seine genaue Position an. Falls das GPS gestört sein sollte, benutzt er sein INS (Inertial Navigation System), dann hat er noch eine Kamera an Bord, welche die Landschaft beobachtet und mit der digitalen Landkarte des Bordcomputers vergleicht. Über Wasser ist das zwar keine Hilfe, aber das Bordradar erkennt die Küstenlinie, und aus all diesen Daten kann der Taurus seine Position auf ein paar Meter genau berechnen.
Um seinen Bestimmungsort zu erreichen, fliegt er weiter Kurs Südwest, und zwar mit Mach 0,9, das sind 300 Meter pro Sekunde oder 18 Kilometer in der Minute. Nach 10 Minuten ist er über der Bucht von Greifswald und dreht nach Süden. Unter ihm ist jetzt die Mecklenburger Landschaft, die er mithilfe seines TFR („Terrain Following Radar“) in geringer Höhe, aber mit unverminderter Geschwindigkeit überfliegen kann. Nach weiteren 10 Minuten hat er die Stadtgrenze von Berlin erreicht. Jetzt zieht er steil nach oben, um sein genaues Ziel, wie ein Adler, aus großer Höhe zu identifizieren.
Und da ist es auch gefunden: der rechteckige Grundriss mit der Kuppel in der Mitte lässt keinen Zweifel daran, genau so ist es in seinem Programm gespeichert. Der Taurus stürzt sich jetzt von oben herab genau mitten in sein Ziel hinein. Zuerst zündet die „Penetration Charge“, das ist die kleinere Ladung, die zum Durchdringen einer möglichen Schutzwand notwendig ist. Sie zerfetzt die gläserne Kuppel in tausend kleine Splitter. Nach einigen Millisekunden explodiert dann die eigentliche große Bombe von ca. 400 Kilo und legt das Reichstagsgebäude, von innen heraus, in Schutt und Asche. Das Schicksal der Menschen darin: unvorstellbar. Die Suchoi ist inzwischen wieder unversehrt in Levashovo gelandet.
Bei dieser Mission fügt der Angreifer dem Gegner einen maximalen Schaden zu – ohne eigenes Risiko. Das macht den Taurus zu einer sehr begehrten Waffe. Aber dient er auch zur Abwehr eines Feindes? Nur wo Angriff für die beste Verteidigung gehalten wird. Aber diese Strategie führt zwangsläufig zu einer rasanten Eskalation jedes Konfliktes; da kann der Streit um eine Halbinsel in einen Weltkrieg ausarten, so wie das Attentat auf einen österreichischen Erzherzog.
Die Lieferung von Taurus-Flugkörpern an die Ukraine könnte also weitreichende, nicht absehbare Konsequenzen haben. Die aktuelle Debatte wird dem nicht gerecht, sie wird auf dem falschen Niveau und in den falschen Kreisen geführt. Wer eine Maschine, die zum Massenmord eingesetzt werden kann, stolz auf seinem T-Shirt herumträgt, ist geschmacklos oder zynisch. Das wird nur noch übertroffen von der Redaktion eines Fernsehprogramms für Kinder, wo diese Mordmaschinen als schnuckelige Tierchen den Fünfjährigen näher gebracht werden sollen.
Ganz offensichtlich ist Taurus alles andere als generisches Rüstungsmaterial. Der Lieferant ist zwangsläufig mehr oder weniger aktiv am Einsatz jedes einzelnen Flugkörpers beteiligt. Das ist anders als beim Verkauf von 5,56 mm Munition für Sturmgewehre. Wenn da die Ware über den Ladentisch geschoben ist, kann der Lieferant sie vergessen; er braucht nicht zu wissen wo und wie sie eingesetzt wird. Der Autopilot des Taurus dagegen muss mit einem Flugplan für seinen ganz spezifischen Einsatz gefüttert werden, so wie aus dem oben beschriebenen Beispiel ersichtlich. Dafür bedarf es großer Mengen präziser, möglicherweise auch geheimer geographischer und militärischer Daten. Und es bedarf gut ausgebildeter Spezialisten, um auf Basis dieser Daten und dem Ziel der Mission das Profil des Einsatzes auszuarbeiten.
Vermutlich sind solche Experten nicht sehr zahlreich und sicherlich könnten sie ihr Wissen nicht in ein paar Tagen dem Personal der kriegsführenden Militärs vermitteln, ohne sich selbst dabei an der konkreten Mission zu beteiligen. Egal was für eine Uniform diese Experten dann anzögen, Deutschland als Lieferant des Taurus wäre dann im Krieg mit Russland.
Könnte die Ukraine dennoch versuchen, ohne jegliche externe Hilfe den Taurus gegen Russland einzusetzen? Die Suchoi Su-24/Su-24M wäre in der Lage, ihn zu tragen. Von diesem Typ hat oder hatte die ukrainischen Luftwaffe einmal 12 Stück. Die SU24 ist auch schon als Träger für das Cruise Missile „Storm Shadow“ eingesetzt worden, sodass eine Anpassung des Taurus wohl möglich, wenn auch keineswegs trivial wäre. Die ukrainischen Lockheed F-16 und Mirage 2000-5F könnten das Gewicht eines Taurus ebenfalls tragen, allerdings wäre eine Anpassung hinsichtlich digitaler Kommunikation, Aerodynamik und mechanischer Struktur kurzfristig kaum möglich. Zudem verlor die Ukraine kürzlich eine F16 und ihren Piloten im Luftkampf gegen Russland, und um einen Taurus gegen ein Ziel in Moskau einzusetzen, müsste das Trägerflugzeug einige hundert Kilometer in den russischen Luftraum eindringen.
Auch Programmierung und Betrieb der Zielelektronik erfordern sehr spezielles technisches Fachwissen und Zugang zu geheimen Daten. Für die notwenige geodätische Information ist „Google Earth“ vermutlich nicht die adäquate Quelle. Gute Kooperation zwischen Hersteller, Militär und möglicherweise Lieferanten der Subsysteme sind hier notwendig.
Fazit: Die Ukraine hat zwar Kompetenz in der Programmierung und Bedienung ähnlicher westlicher Systeme. Man hat bereits die Storm Shadow erfolgreich an Su-24M-Flugzeuge angepasst, aber vermutlich mit freundlicher Unterstützung durch die NATO. Würde es der Ukraine tatsächlich gelingen, einen Taurus erfolgreich gegen ein russisches Ziel, etwa in Moskau einzusetzen – was alle Götter im Himmel und auf Erden verhindern mögen – so wären da mit großer Sicherheit intensive externe westliche Hilfe mit im Spiel gewesen.
Dieser Artikel von Hans Hofmann-Reinecke erscheint auch im Blog des Autors Think-Again. Der Bestseller Grün und Dumm, und andere seiner Bücher, sind bei Amazon erhältlich.