
Fliegende Autos braucht ohnehin niemand. Das mag vielen Zweiflern Ende letzten Jahres durch den Kopf gegangen sein, als die beiden deutschen Flugtaxi-Platzhirsche Lilium und Volocopter kurz nacheinander Insolvenz anmeldeten. Ein wohl häufig mit großer Genugtuung verbundener Gedanke, hatten die Nörgler doch schon immer auf den fehlenden Bedarf hingewiesen. Die Einschätzung ist durchaus korrekt, denn der Individualverkehr in der Luft schließt angesichts der vorhandenen Optionen auf Straßen und Schienen keine offensichtliche Lücke. Nein, niemand braucht fliegende Autos. Nur ist Innovation nicht das, was man braucht.
Multicopter für den Personentransport im niedrigen, unkontrollierten Luftraum will auch niemand. Werden sie mit Verbrennern betrieben, sind sie zu laut. Fliegen sie elektrisch, ist ihre Reichweite zu gering. Und hören wird man sie auch dann, das Schraubengeräusch bleibt unvermeidbar. Ihr Energiebedarf spottet in beiden Varianten ohnehin jeder Beschreibung. Gefährlich sind sie außerdem, Unfälle mit Todesfolge und nennenswerten Schäden am Boden werden zwangsläufig geschehen. Zu kritisch ist der Übergang von der vertikalen Bewegung bei Start und Landung in die horizontale des Streckenflugs. Start- und Landeplätze mit geeigneter Ausstattung in dicht bebauten Innenstädten anzulegen, tritt als weitere Hürde hinzu.
Angesichts all dessen kann man Flugtaxis begründet ablehnen. Dennoch werden schon in wenigen Jahren hunderttausende dieser Vehikel weltweit Menschen transportieren. Weil Innovation Bedenken ignoriert und sich um Ängste nicht schert.
Ineffizient, riskant, belästigend und sinnlos stellen nur scheinbar gute Argumente dar. Klammern sie doch allesamt den entscheidenden Aspekt aus. Der sich aus der Antwort auf die Frage ergibt, was denn überhaupt nach dem Automobil kommen könnte.
Der Verlagerung individueller Mobilität in die dritte Dimension jede Zukunft abzusprechen, erklärt implizit den PKW zum Endpunkt allen Fortschritts. Eine defätistische Einstellung angesichts der Rasanz, mit der in allen anderen Bedarfsfeldern derzeit neue Angebote entstehen. Dieser Blick auf menschliche Kreativität und Schaffenskraft kann nur als überaus verzagt bezeichnet werden. Innovation aber setzt sich über alle Zweifel hinweg.
So hätten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die meisten Zeitgenossen mit Unglauben und Unverständnis auf die Anregung reagiert, über potentielle Nachfolger von Pferd und Kutsche nachzudenken. Jede Schilderung von Automobilen wäre mit Ablehnung und Gelächter quittiert worden. Zu laut, zu dreckig, zu gefährlich und wo soll eigentlich die ganze benötigte Energie herkommen? Undenkbar, flächendeckend eine völlig neue Verkehrsinfrastruktur zu errichten. Unmöglich, sehr vielen Menschen, also nahezu allen, die Führung und Bedienung einer solch komplexen Maschine beizubringen und anzuvertrauen. Von Gottlieb Daimler persönlich ist das Zitat überliefert, die weltweite Nachfrage nach Automobilen werde eine Zahl von einer Million aus Mangel an geeigneten Chauffeuren niemals überschreiten. Aktuell beläuft sich der globale Kraftfahrzeugbestand auf etwa 1,5 Milliarden und neunzig Millionen werden jährlich produziert. Innovation missachtet die Restriktionen der Gegenwart, in der sie entsteht.
Das Automobil hat sich durchgesetzt, Rosse und Gespanne von den Straßen verdrängt, weil Mobilität in nahezu allen Zusammenhängen primär dem Ankommen dient und nicht dem Unterwegssein. Geschwindigkeit ist der alles entscheidende Faktor. Die Flexibilität, sich unabhängig von Ort, Zeitpunkt und der Willkür Dritter bewegen zu können, bedingt die hohe Attraktivität individuell nutzbarer Angebote. Aspekte wie Kosten und Komfort treten dahinter zurück. Mehr als sechzig bis neunzig Minuten täglich möchten die wenigsten Menschen für regelmäßig zurückzulegende Strecken opfern. Selbst die größten Städte übertreffen daher seit jeher kaum das Ausmaß von einer Stunde, ganz gleich, ob ihre innere Vernetzung auf Fußgängern und Sänften in der Antike, auf Pferden und Wagen im Mittelalter oder auf Kraftfahrzeugen und Straßenbahnen in der Neuzeit beruht.
Mit sinkenden Reisezeiten durch schnellere Transportmittel vergrößert sich also der Raum, den sesshafte Menschen dauerhaft und nicht nur sporadisch für sich nutzen können. Was ihren Zugriff auf Arbeitsplätze, Ausbildungsstätten und Versorgungseinrichtungen aller Art erweitert. Zu Fuß verlässt man nur selten sein Viertel, mit dem Auto stehen ganze Metropolen offen und Flugautos verknüpfen regionale Agglomerationen darüber hinaus. Setzt man das Durchschnittstempo eines Fußgängers bei vier bis fünf an und das eines Kraftfahrzeuges bei zwanzig bis dreißig (innerstädtisch), wird die Wirkung des ungefähr hundert Stundenkilometer versprechenden individuellen Fliegens deutlich.
Darüber hinaus eignet es sich auch für Transporte in die Höhe. Wenn nur punktuell verfügbare Aufzüge und Rolltreppen mit ihren begrenzten Kapazitäten keine limitierenden Faktoren für die logistische Erschließung der Vertikalen mehr sind, ergeben sich völlig neue architektonische Chancen für die effektive Anordnung von Wohn- und Gewerbeflächen. Nicht nur fliegt der Imbisswagen ebenso von Stockwerk zu Stockwerk wie der Paketbote, auch sind Supermärkte, Warenhäuser und Restaurants in Etage achtzig ebenso leicht zu erreichen wie solche auf Straßenebene. Manche Zeitgenossen werden in Zukunft vielleicht nur noch selten den Erdboden betreten.
Abheben für alle mag abgehoben klingen, ist aber tatsächlich nah an der Realisierung. Es sind ja nicht nur das zwischenzeitlich gerettet erscheinende und aktuell wieder insolvente Lilium und das nach wie vor Investoren suchende Volocopter zu beachten. Aus China drängen EHang und XPeng in die Anwendung, aus den USA Archer und Joby Aviation, aus dem Vereinigten Königreich Bellwether Industries und aus Israel Urban Aeronautics. Nur eine kleine Auswahl laufender und vielversprechender Projekte, die bei weitem nicht alle Ansätze, Konzepte und Prototypen abdeckt. Selbst große Flugzeughersteller wie Airbus oder Boeing investieren mittlerweile in die Entwicklung individueller Fluggeräte, deren Spektrum von reinen Passagierdrohnen bis hin zu solchen reicht, die gleichermaßen fahren wie fliegen können.
Der Begriff „Flugauto“ steht übergreifend für ein neues Verkehrsmittel, das den unteren, unkontrollierten Luftraum für private Verkehre ebenso erschließt wie einst das Automobil die Erdoberfläche. Sei es professionell pilotiert, hochautomatisiert vom Nutzer selbst gesteuert oder völlig autonom agierend, sei es für Fracht- oder Personentransporte, sei es für Zwecke des Polizei- und Rettungswesens, für die Brandbekämpfung oder die Wartung von Infrastrukturen. Die noch bestehenden Barrieren sind längst nicht mehr technischer, sondern primär regulatorischer Natur. In allen Ländern und allen Wirtschaftsräumen kämpfen die Entwickler mit den jeweiligen Zulassungs- und Zertifizierungsbehörden. Was Ressourcen frisst, Zeit kostet und die neu entstehende Branche für Investoren nicht attraktiver macht.
Angesichts der Schwierigkeit, solche bürokratischen Bremsen zu lösen, sollten staatliche Fördermittel zur Bewahrung von Kompetenz und Expertise nicht prinzipiell als Teufelszeug verworfen werden. Die Grünen haben in der Ampelregierung Unterstützungsleistungen für Lilium und Volocopter auch nicht deswegen verhindert, weil sie plötzlich doch die reine Lehre von der Marktwirtschaft für sich entdeckten. Sondern weil sie die Freiheit fürchten, die Bürger mit einem größeren Bewegungsradius gewinnen. Als kleinster gemeinsamer Nenner der alten Regierung verblieb nur eine von Verkehrsminister Wissing abgesegnete und im Dezember veröffentlichte „Advanced-Air-Mobility-Strategie“. Die an mangelndem Ehrgeiz kaum zu übertreffen ist. Und ob das Papier die nächste Regierung überlebt, sei dahingestellt.
Flugautos sind laut, ineffizient, ineffektiv, viel zu teuer und außerdem gefährlich. Kann man alles gut begründen. Ist nur nicht relevant. Der Individualverkehr in der Luft wird kommen, ob man ihn möchte oder nicht. Denn Fortschritt will nicht sympathisch sein, sondern nur nützlich. Flugtaxis stellen daher vor allem einen Lackmustest für Deutschlands Innovationswillen und Innovationsfähigkeit dar.
Innovation ist nicht, was man braucht oder was man will. Innovation ist nicht bequem oder zeitgeistkonform. Sie macht Lärm, ist dreckig und im Moment ihrer Geburt weitab von jeglicher Perfektion. Innovation ist schlicht das, was man nicht mehr missen will, wenn man es einmal hat. Weil Innovation keine Probleme löst, sondern neue Möglichkeiten schafft. Und deswegen ist eine Zukunft ohne fliegende Autos nicht mehr vorstellbar. Offen bleibt nur, ob auch deutsche Unternehmen diese mitgestalten oder nicht.