
Schlimm ist, wenn man für etwas anderes gehalten wird, als man ist. Noch schlimmer, selbst zu glauben, man sei etwas, während man eigentlich etwas anderes ist. Diese doppelte Identitätskrise kann man mit Fug und Recht diversen Institutionen in Deutschland rund um die große Zeitenwende 2015 zuschreiben. Sie glaubten (oder ließen glauben), etwas ganz Bestimmtes zu sein – wohltätig, humanitär und zugleich am Gemeinwesen und seinen Interessen orientiert –, und waren es doch gar nicht.
Etwas ungerecht ist sicher, wenn man das Schulwesen in diese Kategorie hineinzieht. Denn Lehrer und Pädagogen bilden keine einheitliche, monolithische Masse, in der alle dasselbe denken. Und doch bestand auch für Pädagogen eine große Versuchung darin, das Jahr 2015 als Chance wahrzunehmen.
Es ist eine interessante Erkenntnis, dass Schulen schlechter werden, wenn ihre Schüler schlechter werden. Das ist die subtile Botschaft des neuen Bildungsmonitors des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln, aus dem die Welt am Sonntag jüngst in Auszügen zitierte. Gemäß dem Monitor ist die Qualität der deutschen Schulen unaufhaltbar im Sinken begriffen. Merkwürdig ist allerdings, dass die Schulen bis zum Schicksalsjahr 2015 immer besser wurden – das sagt auch der IW-Bildungsmonitor –, danach aber den umgekehrten Weg gingen.
Der Begriff „Wasserscheide“, den die Forscher hier in dicken Anführungszeichen nutzen, trifft an sich genau ins Schwarze. Wie auf dem Grat eines Gebirges fließen die Wasser davor in eine Richtung, danach in eine andere – und niemand kann etwas an diesem physikalischen Grundgesetz ändern. Das Bildungssystem schwamm allerdings zuvor den Berg rauf, das ist keine Physik, seitdem geht es den Bach runter.
Verpflichtende Sprachtests plus „Entwicklungsdiagnostik“ werden auch von Bildungsministerin Karin Prien (CDU) ins Feld geführt, in die Schlacht gegen den bildungspolitischen Untergang. Der Staat soll demnach Kleinkinder fit machen für die Grundschule. Das gab es noch nie, früher jedenfalls nicht.
Dafür waren ja Grundschule und Vorschule da, auch der Kindergarten. Nun braucht es nicht nur eine Vorschule, sondern eine Vor-Vorschule. Kleine Kinder beginnen ihre schulische Laufbahn also mit einer Förderschule noch vor der eigentlich Schule. Ist das schon ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit? Vielleicht nicht, aber es zeigt, dass sich der deutsche Staat seit dem Wasserscheidenjahr 2015 sehr viel aufgebürdet hat, was er vielleicht gar nicht leisten kann.
Daneben beklagen auch Kirchenobere – egal ob katholisch oder evangelisch – den sehr stark nachlassenden Respekt vor den Kirchen in den Jahren seit 2015. Wie konnte es dazu nur kommen? Angeblich nehmen „antikirchliche und antireligiöse Tendenzen“ zu, wird ein Religionssoziologe Detlef Pollack in der Welt zitiert. Dass es nicht ohne Wirkung bleiben kann, wenn man daneben mehrere Millionen Andersgläubige, nämlich teils strenggläubige Muslime ins Land aufnimmt, das wird auch in diesem Artikel wieder verschwiegen.
Offene Gotteshäuser, das ist vielleicht nicht in allen Ländern Europas der Usus, aber in Deutschland war es so, weil offene Kirchen „auch Orte der Stille, des Gebets und der persönlichen Einkehr“ sind, abseits aller Gottesdienste. Doch damit scheint es auf absehbare Zeit auch in Deutschland zu Ende zu gehen. Immer häufiger werden die Sachbeschädigungen, nicht mehr allein Diebstähle aus den Spendeneinwurfdosen.
Stattdessen gibt es inzwischen „Exkremente in Weihwasserbecken und Beichtstühlen, enthauptete Christus- und Heiligenstatuen, Zigarettenstummel und anderer Unrat vor Andachtsbildern, beschädigte Gebet- und Gesangbücher, umgestoßene Kirchenbänke, Altarbilder und ganze Altäre vernichtet durch Brandstiftung“, so der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp. Dabei geht es Kopp zufolge nicht um Diebstahl oder Raub, sondern um Angriffe auf die Kirchen, um die offene Verachtung der abendländischen Glaubenstraditionen. Das ist mehr als nur Vandalismus, es ist eine Kampfansage, ganz sicher, wenn „die liturgische Hauptausstattung … geschändet“ oder „Christus- und Heiligenstatuen entwürdigt“ werden. Die zugewanderten Muslime, die teils bei solchen Taten erwischt wurden, wissen sehr genau, was sie tun. Kopp wünscht sich, dass staatliche Profiler „noch genauer hinschauen würden“.
Auch die EKD-Sprecherin glaubt, dass solche Gewalt „nicht einfach Mauern und Steine“ treffe, sondern die „Glaubenden, die sich dort geborgen fühlen“. Doch das ist schon zum größten Teil vorbei. Die Geborgenheit war vielleicht vorgestern vorhanden. Gestern schwand sie, heute ist sie verschwunden. Die Presse greift die Klagen der Kirchenleute auf, wagt aber ebenso wenig wie sie die Benennung des eigentlichen Problems. Das wird nur als Zahlenchiffre verkündet: Wieder einmal ist es die Wasserscheide 2015 gewesen.
Und wieder einmal muss man andere Nachrichten herbeiziehen, um die ganze Tiefe des Problems wahrzunehmen. Im Dezember flog ein 15-jähriger „Brandenburger“ aus dem hauptstadtnahen Kreis Teltow-Fläming damit auf, einen Anschlag auf eine Kirche in Berlin geplant zu haben. Er hatte über Telegram Kontakt zum Islamischen Staat aufgenommen. Das erscheint nun als krasser Einzelfall, ist es aber angesichts der obigen Kirchenklagen sicher nicht.
Mit der Pädagogik und den Kirchen werden zwei Hauptakteure der Krise von 2015 von ihr getroffen. Mit einem Unterschied: Für die Lehrer gibt es einfach noch immer mehr zu tun, auch wenn ihre Ziele dadurch immer schwerer zu erreichen sind. Es scheint gleichgültig, ob ein Pädagoge deutsche Kinder unterrichtet oder junge Araber – obwohl die Bedeutung von Schiller und Goethe in so einem Umfeld wohl abnimmt. Aber es ist für ihn die gleiche Arbeit. Dagegen geht es den Kirchen im Grunde an die Existenz. Das ist das eigentlich Merkwürdige hinter dieser lange von ihnen verleugneten und begünstigten Krise.