
Geht es noch um Frankreich? Geht es um Paris Saint-Germain, den Fußball-Club? Oder geht es längst um etwas ganz anderes? In München konnte man am Wochenende ohne weiteres diesen Eindruck gewinnen. Die angeblichen PSG-Fans zogen durch diese so saubere Innenstadt mit dem kämpferisch vorgetragenen Slogan „Wir sind alle Kinder von Gaza“ samt Palästinenser-Flagge als Transparent. Als das Spiel dann aus war, stürmten Fans den Rasen der Allianz-Arena und versuchten, sich ein Souvenir zu sichern. Auch das Tor beschädigten sie angeblich in ihrem Übermut. Aber der Münchner Stadionrasen wird angeblich zeitnah repariert. Alles kein Problem.
In Frankreich gab es aber doch ein Problem. 700 Feuersbrünste in einer Nacht, 264 Autos wurden angezündet. Einige Luxuskarossen wurden auch lustvoll demoliert. Es gab rund 200 Verletzte und zwei Tote: In Paris verstarb ein junger Mann bei einem Zusammenstoß mit einem Motorroller, gelenkt von einem der „Fans“. In Dax im Südwesten des Landes wurde ein 17-Jähriger in der Nähe eine Fanzone erstochen. In der Region La Manche an der nördlichen Atlantikküste wurde ein Polizist von einem Feuerwerkskörper getroffen und so schwer verletzt, dass er ins künstliche Koma versetzt werden musste. Insgesamt wurden an die 30 Polizisten und Feuerwehrleute verletzt. 563 Personen wurden im gesamten Land festgenommen, 491 davon in Paris.
Es ist das Chaos, das tötet, könnte man nun sagen. Und auf dieses Chaos wirken allerdings gewisse Bevölkerungskreise systematisch hin. Im Beitrag des ZDF-Heute-Journals wundern sich junge, sehr zivil wirkende Pariser, warum man nicht einfach zusammen feiern könne. Es wirkt wie eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Die jungen Männer und Frauen haben dieses Ideal noch vor dem geistigen Auge. Die Realität von Paris war in der Nacht auf den Sonntag eine andere.
Marion Maréchal, konservative EU-Abgeordnete, mochte das nicht akzeptieren: „Der Sieg eines französischen Vereins sollte ein Moment der gemeinsamen Freude sein. Er verwandelt sich in Auseinandersetzungen, Plünderungen und Zerstörungen. Unterstützung für die Ordnungskräfte, die sich heute Abend in den Straßen von Paris Horden von Gesindel gegenübersehen.“ Das Wort Gesindel ist in Frankreich ein stehender Terminus, der sich meist mit der Problematik der Vorstädte verbindet.
Auch ein Bild-Reporter geriet unversehens ins Kriegsgeschehen an der zentralen Place de la Bastille. Beim 1:0 flogen die Fäuste, beim 4:0 wurde aus Jubel „Hass“. Die Lage spitzte sich rasch zu. Unzählige Feuerwerkskörper verpesteten die Luft, man verbarrikadierte sich im Bistro, Frauen und Kinder weinten. Kurz darauf konnten Sicherheitskräfte mit Mühe und Not wieder eine Art Frieden herstellen.
Auch in München waren 2000 Polizisten im Einsatz. Jedes Tor der Pariser Mannschaft wurde mit Bengalenfeuern quittiert, was die Polizei erst später zur Anzeige brachte. Am U-Bahnhof Fröttmaning, wo die Arena steht, kam es zur Prügelei zwischen zwei Fangruppen. Im U-Bahnhof Universität versprühte eine Fangruppe im Konflikt mit einer anderen einen Reizstoff, der auch den Polizisten zusetzte. Und Zufall der Zufälle: Auch im Münchner Osten gab es in der Nacht der Feiern eine Messerattacke auf eine Frau und einen Mann, der dabei schwer verletzt wurde. Aber das war wohl nur eine der alltäglichen Messerattacken, die Deutschland inzwischen gewöhnt ist.
Wiederum in Frankreich hat Jordan Bardella, Vorsitzender des Rassemblement national (RN), erklärt: „Wie bei jedem Volksfest wird die Hauptstadt Frankreichs zum Spielplatz des Gesindels. Immer dieselben Profile und immer dieselbe staatliche Hilflosigkeit.“ Dieselben „Profile“ – auch Bardella führt das nicht näher aus. Er sieht aber nicht nur das Problem der öffentlichen Unsicherheit. Es sei „das Bild Frankreichs in der Welt, das geschmälert wird“.
Für den Ex-Republikaner Éric Ciotti sind es schlicht „Wilde“, die das Fest in ein „totales Chaos“ verwandelt hätten. Ciotti fragt herausfordernd: „Wie lange wollen wir dem Zusammenbruch unseres Landes noch zuschauen?“
Und selbst ein David Lisnard, der Bürgermeister von Cannes (Les Républicains) und Präsident des Verbands der französischen Bürgermeister, sprach in einem langen Tweet davon, dass in der Nacht zum Sonntag der „Volksjubel“ sich mit dem „Abschaum der Menschheit“ gemischt habe. Wer immer die „Szenen der Gewalt“ verharmlose, rechtfertige oder fördere, sei „eine Schande für unser Land“. Lisnard ließ offen, wen er meinte. Das Volksfest in Frankreich sei nicht mehr möglich, ist Lisnards erste Vermutung. Er fordert aber dazu auf, „diese politische Periode nach der katastrophalen Auflösung“ des Parlaments durch Emmanuel Macron zu beenden. Frankreich brauche (endlich) eine starke Justiz, um sich Respekt zu verschaffen.
Marine Le Pen hat auf die Angriffe auf mehrere Synagogen und das Shoa-Denkmal hingewiesen. Die „extreme Linke“ habe seit Monaten die palästinensische Sache instrumentalisiert, und sie trage daher eine schwere Verantwortung für die Zunahme antisemitischer Handlungen, die das Land beschädigen. Die Schmierereien in grüner Farbe betrafen drei Synagogen, das Denkmal und ein jüdisches Restaurant und stammten aus der Nacht zum Samstag. Vorsicht ist dennoch geboten – solche Aktionen sollen in der Vergangenheit von Agents provocateurs (russische Agenten?) begangen worden sein. Diesmal aber vielleicht nicht.
Innenminister Bruno Retailleau (LR) hat erhöhte Sicherheitsmaßnahmen für das jüdische Erntedankfest Schawuot angekündigt, das am Sonntag begonnen hat. Retailleau kritisierte daneben auch die Übergriffe und Verwüstungen durch jene „Barbaren“, die ins Zentrum von Paris gekommen seien, um „Straftaten zu begehen und die Ordnungskräfte zu provozieren“.
Das brachte dem Innenminister scharfe Kritik aus dem linksradikalen Lager ein. Ein Abgeordneter für La France insoumise (LFI), Antoine Léaument, warf dem Innenminister und „ersten Flic Frankreichs“ vor, durch den Einsatz von Tränengas selbst das Chaos verbreitet zu haben. Die Polizei sei meistenteils gegen „friedliche Leute“ vorgegangen. Man fühlt sich an die „meist friedlichen Demonstrationen“ des Black-Lives-Matter-Sommers erinnert.
Auf Franceinfo beschwerte sich der LFI-Abgeordnete Éric Coquerel: „ Wenn Sie ‚die Barbaren‘ sagen, bedeutet das, dass es Menschen gibt, die Barbaren sind, und andere, die zivilisiert sind. Und in den Begriffen von Bruno Retailleau ist die Zivilisation jüdisch-christlich.“ Das wäre aber höchstens ein Unterton in Retailleaus Sprache. Es wird nicht offen gesagt. Retailleau beharrt am Montag darauf: „Ja, es sind Barbaren.“ Barbarei sei, wenn „alles zum Vorwand für Gewalt“, für „die ungehemmte Lust an Zerstörung und Plünderung wird“. Die Frage ist, ob dieser Begriff nicht mehr verbirgt, als er offenlegt. Denn was macht man denn nun politisch mit „Barbaren“?
Éric Zemmour sagt es etwas deutlicher: „Erneut kommt es in Paris zu Krawallszenen. Aber Vorsicht, man sollte auf keinen Fall die unangenehme Frage stellen: Woher kommen die Leute, die das tun? Und warum sind sie immer noch hier?“
An der Universität Münster hat nun die Forschungsstelle Islam und Politik unter Leitung des islamischen Theologen Mouhanad Khorchide herausgefunden, dass allein in Deutschland eine Million Muslime für eine radikale Islamdeutung offen sind. Betroffen seien „Muslime, die sich in besonderer Weise in ihrer persönlichen Weltanschauung gekränkt sehen, starke antiwestliche oder antisemitische Feindbilder pflegen und zugleich eine geringe Kritikfähigkeit zeigen“, berichtet die Welt.
Diese Gruppe, die etwa 20 Prozent der hier lebenden Muslime ausmachen soll, bejaht etwa, dass der Islam die „einzige und letztgültige politische Autorität“ sei und dass die Scharia „viel besser als die deutschen Gesetze“ sei. Die Forscher interpretieren diese Wertung vor allem als Ergebnis einer „Affektlage des Ressentiments“, die sie als „neuen und sogar starken Radikalisierungsfaktor“ ansehen. Ressentiments hat aber derjenige, der sich zu Unrecht zurückgesetzt fühlt – egal, ob er damit Recht hat oder nicht. Er empfindet es so. Die Münsteraner Religionspsychologin Sarah Demmrich empfiehlt die Stärkung der „innerislamischen Kritikfähigkeit“.
Dass das „Gesindel“ (die racaille) auf den Straßen Frankreichs eine besonders intensive Version des Islams auslebt, wird man zunächst nicht annehmen. Aber das Ressentiment könnte der „missing link“ zwischen beiden Erscheinungsformen sein