
Dieses Urteil kam dann doch mit kaum so erwarteter Härte. Marine Le Pen und acht weitere EU-Abgeordnete aus dem Rassemblement national (RN) wurden der Veruntreuung öffentlicher Gelder für schuldig befunden. Das erklärte das Pariser Gericht in seinem Urteilsspruch vom Montagmorgen, der derzeit noch unter großer Medienaufmerksamkeit verlesen wird. Anderthalb Stunden hörte sich auch Marine Le Pen das Urteil an, bevor sie den Gerichtssaal gegen zwölf Uhr sichtlich genervt verließ.
Der Gesamtschaden betrug laut den Richtern 2,9 Millionen Euro, weil Fraktionsmitarbeiter für die Partei Le Pens gearbeitet hätten. Es handele sich nicht um einzelne „Fehler“, sondern ein System, so die vorsitzende Richterin Bénédicte de Perthuis. Kritiker des Urteils wiesen darauf hin, dass es keine „fiktiven Anstellungsverhältnisse“ und keine persönliche Bereicherung gegeben habe.
Das genaue Strafmaß für die neun politischen Angeklagten (wie auch die zwölf anderen) bleibt noch unklar. Die Richterin kündigte an, dass dies noch etwas dauern könne. Zuerst müssten einige Dinge erläutert werden. Für Le Pen hat die Staatsanwaltschaft vorab ein fünfjähriges Kandidierverbot (Verlust des passiven Wahlrechts auf Zeit), fünf Jahre Haft (davon zwei auf Bewährung) und eine Geldstrafe von 300.000 Euro gefordert. Allein diese Geldstrafe liegt sehr hoch. Müsste Le Pen zudem in Haft, wäre der auch politische Rufschaden für sie ungleich höher.
Für den ehemaligen EU-Abgeordneten Bruno Gollnisch wurden drei Jahre Freiheitsentzug (zwei auf Bewährung), 200.000 Euro Strafe und fünf Jahre Unwählbarkeit gefordert. Weitere EU-Abgeordnete sollen für drei bzw. ein Jahr unwählbar werden, 20.000 bis 30.000 Euro an Strafen zahlen und mit zehn oder 18 Monaten Haft bedroht werden. So wird die Schuld für jeden Abgeordneten abgestuft bestimmt.
Seine besondere Brisanz entwickelt das Urteil durch den schon vorab verbreiteten Umstand, dass das Berufungsrecht in diesem Fall praktisch ausgehebelt wird. Selbst wenn Le Pen und die Mitangeklagten Berufung einlegen, sollen die Urteile „vorläufig“ vollstreckt werden. Ein Verfahren, dass einzigartig erscheint. Louis Aliot, bisher Bürgermeister von Perpignan, verlöre dieses Amt in diesem Fall.
Am Freitag hat zu der Frage auch der Verfassungsrat beraten das „provisorische“ Verfahren für verfassungsgemäß erklärt. Dieses Verfassungsgericht ist bestückt mit ehemaligen Politikern. Doch Juristen haben bereits Einwände geltend gemacht. Denn zu der vorläufigen Gültigkeit kommen die Reputationsschäden, die ein solches voreilig vollstrecktes Urteil zur Folge hätte. Theoretisch wäre das die Grundlage für eine Haftbarkeit des Gerichtes selbst.
Auch diese Besonderheit führt dazu, dass der Prozess ebenso wie das nun gefällte Urteil einen entschieden politischen Charakter annehmen. Umso mehr ist das so, als Marine Le Pen laut neuesten Umfragen bei einem Rennen um das Präsidentenamt mit 32 Prozent der Befragten den ersten Platz belegt. Die nächsten Präsidentschaftswahlen stehen turnusgemäß 2027 an. Emmanuel Macron wird dann nicht mehr antreten können. So wie es jetzt scheint, wird das gleiche auch für Marine Le Pen gelten, die sich bei den Präsidentschaftswahlen 2012, 2017 und 2022 zur Wahl stellte und dabei auch zweimal in die Stichwahl gegen Macron ging.
Premierminister François Bayrou hatte am Wochenende eine heftige Reaktion der Wähler befürchtet, wenn das Urteil so ausging, wie nun geschehen. Bayrou sprach vom Risiko eines „Schock in der öffentlichen Meinung“. Pikantes Detail: Bayrou erwartet selbst ein Berufungsurteil in einem Fall, in dem seiner Partei ähnliche Vergehen im EU-Parlament vorgeworfen wurden. Merkwürdig: In Bayrous Fall war also eine Berufung möglich. In Le Pens Fall könnte sie eventuell nicht mehr rechtzeitig Wirkung entfalten, weil das Urteil bereits von heute an vollstreckt werden soll.
Und sogar Ex-Kommissar Thierry Breton zeigte sich vorab „sehr verärgert“, wenn die RN-Chefin nicht bei kommenden Wahlen antreten könnte. denn „es gibt eine sehr große Zahl unserer französischen Mitbürger, die sich in den Worten und dem Kampf von Marine Le Pen wiederfinden“. Breton behauptet freilich, hier als „einfacher Bürger“ zu sprechen.
Könnte es sein, dass ein Gesetz, das auch bisher bestand, einfach nie angewandt wurde, weil es bisher nur die eigenen Leute getroffen hätte? Und heute wird es von den Richtern härtestmöglich angewandt, weil es nunmehr die aus ihrer Sicht „Richtige“ trifft. Der Eindruck drängt sich auf, zumal wenn man die Protestnoten der Politiker anderer Parteien sieht. Der Entzug des passiven Wahlrechts wird immer wieder als „notwendig“ und automatisch bezeichnet, wo es um Veruntreuung öffentlicher Gelder geht. Das könnte man begrüßen – es sollte aber für alle Politiker gleichermaßen gelten.