
In Frankreich kommen derzeit zwei Dinge zusammen: die Wahl von Bruno Retailleau zum Chef der Républicains, und die Vorstellung eines neuen Berichts zur Präsenz der Muslimbrüder in Frankreich. Der Innenminister ist derzeit einer der populärsten Regierungspolitiker, was auch immer solche Ranglisten wert sein mögen. Seine Positionen werden dabei oft als sehr nah, wenn nicht überlappend mit denen des Rassemblement National von Marine Le Pen beschrieben. Das rechtsnationale Medium Valeurs actuelles nennt Retailleau bereits den „neuen starken Mann der Rechten“.
Der neue Bericht, der am Mittwoch in einem Ministerrat zu den Themen Verteidigung und Sicherheit vorgestellt wurde, behandelt die Muslimbrüder und ihre Ausbreitung in Frankreich, beklagt aber auch die Naivität der EU-Kommission, von EU-Parlament und Europarat gegenüber den Gruppen. Veröffentlicht wurde er nun in einer „abgespeckten Fassung“. Der als geheim eingestufte Bericht hatte etwa 90, der veröffentlichte noch 76 Seiten. Ein hochrangiger Mitarbeiter aus dem Sicherheitsapparat erklärte, man könne „zwar nicht alles sagen“, aber „die Franzosen müssen das Ausmaß der Bedrohung kenne“. Man müsse darüber sprechen und die Gefahren aufzeigen.
Im Bericht werden zum einen Führungskader der Muslimbrüder in Frankreich identifiziert und mit Namen benannt. Darunter sind Sicherheits- und Terrorgefährder. Sie bilden aber nur die Spitze einer Pyramide, in der sich der wirkliche Einfluss der „Brüder“ zeigt. Die Basis der Pyramide wird von einer ganzen Reihe von Moschee- und Kulturvereinen, Sport- und wohltätigen Vereinen gebildet. Immer mehr Viertel würden ganz bewusst von diesen „Ökosystemen“ in Besitz genommen.
Rund 140 Moscheen im Land gelten demnach als direkt mit den Muslimbrüdern verbunden, dazu 20 religiöse Stiftungen. 50 bis 60 weitere Orte des islamischen Kults sollen den Muslimbrüdern nahestehen, dazu noch 21 muslimische Privatschulen und 114 Koranschulen. Das sind allein rund 350 Anlaufstellen im ganzen Land – ein dicht geknüpftes Netz. Auch ein Institut zur Imamausbildung ist betroffen, also eines jener Institute, die Macron vor vier Jahren nach der Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty propagiert hatte, angeblich um der Radikalisierung der französischen Muslime durch im Ausland ausgebildete Imame entgegenzuwirken.
Von der „Bruderschaft“ ergriffen war überdies das inzwischen in Frankreich aufgelöste Komitee gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF), das aber heute in Belgien weiterwirkt – als „Comité contre l’islamophobie en Europe“ (CCIE). Die Anprangerung von vorgeblicher Islamfeindschaft ist ein beliebtes Motiv der Muslimbrüder im Kampf um die geistige Oberhoheit.
Die ursprünglich 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbrüder werden in dem Bericht als „initiatorische Geheimgesellschaft“ beschrieben. Es gebe eine offizielle Struktur, die den gesetzlichen Rahmen respektiert, und eine geheime Organisation rund um einen „Rat der Weisen“. Es gibt Stufen und Grade. Um aktives Mitglied zu werden, müsse man zehn Stufen durchlaufen. Allerdings behaupten manche, diese Regeln hätten sich schon abgeschliffen.
Hinzu kommt: Inzwischen wurden die Muslimbrüder aus Ägypten oder auch Tunesien weitgehend vertrieben und konzentrieren ihre Aktivitäten daher auf Europa. Sie seien „die Matrix des politischen Islams und eine große Bedrohung für den nationalen Zusammenhalt“, heißt es in dem Bericht. Die „Salafisierung“ der Muslimbrüder setzt sich demnach auch heute noch fort. Kurz gesagt: Ihre Islamdeutung wird immer mittelalterlicher. Zugleich wollen sie eine Hegemonie des Islams in Frankreich und anderen Ländern Europas verwirklichen, wozu dann auch das Stichwort vom „Islam des Juste-Milieu“ fällt.
Chakib Benmakhlouf, ehemaliger Vorsitzender einer Muslimbrüder-Organisation, wird in dem Bericht zitiert: „Der europäische Rechtsrahmen ermöglicht es uns, das Modell eines anständigen Muslims zu präsentieren, das als gutes Vorbild für die positive Verbreitung des Islams angesehen wird, und so die Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass wir den Westen islamisieren.“
Ein enger Vertrauter von Minister Retailleau charakterisierte die Bedrohung durch die „Bruderschaft“, wie folgt: Sie breite sich „auf verderbliche und subversive Weise still und leise“ aus. Ihr Plan sei es, „die gesamte Gesellschaft in die Scharia zu überführen“. Die Rede ist von einem „leisen und heimtückischen Entrismus“. Entrismus – das ist eigentlich ein Taktik vor allem trotzkistisch-kommunistischer Gruppen, die sich zum Ziel setzten, verschiedene „bürgerliche“ Institutionen zu infiltrieren und so allmählich die Macht im Staate zu übernehmen.
Bei Wahlen kommen die „Brüder“ in Frankreich langsam, aber stetig voran. Zwar hat sich noch keine größere Partei etabliert, die die Bewegung ausdrückt, aber eine Handvoll auffälliger Listen hat es bei den letzten Kommunalwahlen schon gegeben. Meist ließen sich die „Brüder“ von der radikal-linken „France insoumise“ (LFI) aufstellen, aber auch von anderen Parteien. Damit geht ein Kuhhandel einher: Muslimische Stimmen gegen Listenplätze für Muslimbrüder.
Der Bericht artikuliert die Befürchtung, dass „der Übergang von der Verwaltung der Gemeinschaft durch Wahlen … zur Einsetzung von Islamisten in wichtigen Positionen“ bereits stattfindet. Das sind etwas rätselhafte, andeutende Worte. Demokratische Wahlen degenerieren anscheinend zur bloßen „Einsetzung“ von Muslimbrüdern. Die Erklärung könnte so gehen: Bislang gingen viele der längst eingebürgerten Muslime nicht zu Wahlen. Die Vorstädte (banlieues) sind insofern relativ unpolitische Orte. Wenn deren Einwohner nun aber von radikalen Muslimbrüdern eingesammelt werden, zerbricht eine weitere Illusion der regierenden Eliten.
Nun werden die Präfekte zur „Wachsamkeit“ angesichts der anstehenden Kommunalwahlen im Jahre 2026 aufgerufen. Man hofft offenbar, dass sich solche Kuhhandel unterbinden lassen. Dabei ist diese Art von Klientelwirtschaft nicht verboten. Das Problem ist eher kultureller Art: Welche Art von Islam will Frankreich zulassen? Ist die Regierung überhaupt fähig, diese Entwicklung zu steuern? Kann es nach massenhafter Zuwanderung in Armenviertel einen Islam geben, der viel anders aussieht?
So weit zur inneren Malaise Frankreichs. Zugleich erinnert der französische Bericht aber daran, dass die EU und verbundene Institutionen sich oft sehr unkritisch gegenüber den Gruppen verhalten, die den Muslimbrüdern zugerechnet werden. Das gilt etwa für das „Forum of European Muslim Youth and Student Organisations“ (FEMYSO), selbst auch mit Sitz in Brüssel.
Der Bericht des Innenministeriums benennt FEMYSO als Jugendorganisation der Föderation islamischer Organisationen in Europa (FIOE), die ihrerseits der große europäische Zusammenschluss von Muslimbrüder-Organisationen ist. Laut dem französischen Bericht dient FEMYSO der „Ausbildung von Führungskräften mit hohem Potential innerhalb der Bewegung“. Den Zusammenhang bestätigen auch Experten zu den Muslimbrüdern wie Florence Bergeaud-Blackler, die in Frankreich inzwischen Polizeischutz braucht, und der Italo-Amerikaner Lorenzo G. Vidino.
Und seit 2007 sollen nun mehr als 210.000 Euro EU-Gelder an die Organisation geflossen sein. 2022 ließ die Kommission einen Werbefilm drehen, der „den Geist der neuen Generation von Europäern“ zeigen sollte, wie der Figaro berichtete. Darin erschienen auch FEMYSO-Mitglieder. Schon im Jahr davor hatte der Europarat eine Werbekampagne zugunsten des Hidschabs veröffentlicht – wiederum in Zusammenarbeit mit FEMYSO und der EU, wie das Polit-Magazin Marianne berichtet. Der Werbeslogan sagte dabei schon fast alles: „Schönheit liegt in der Vielfalt, und die Freiheit ist im Hidschab“. Frauen werden darin erst unverhüllt, dann mit einem Hidschab gezeigt, der die Haare vollständig verhüllt. „Bring joy – accept hijab“, heißt es abschließend. Laut der Expertin Bergeaud-Blackler „favorisiert das Brüsseler Ökosystem“ eine gewisse Naivität und Weigerung, die Realität zu sehen. Die Muslimbrüder würden dabei stets bestreiten, dass sie Muslimbrüder sind. Das erschwere die Lage.
Der Bericht sagt es nun eindeutig: Die Muslimbrüder sind durch verschiedene Verbände zum „regelmäßigen Gesprächspartner zahlreicher europäischer Institutionen“ geworden und sind daher zu intensiver Lobbyarbeit in Brüssel und Straßburg in der Lage. FEMYSO wird offiziell als Lobby-Verband von der EU geführt. Zu den Themen dieses Lobbyismus gehören logischerweise wiederum die zu bekämpfende „Islamophobie“, aber auch für die Muslimbrüder wünschenswerte Anti-Blasphemie-Gesetze und der flächendeckende Zugang zu Halal-Produkten im Sinne der Nicht-Diskriminierung von Muslimen. Daneben wird auch für die Legalisierung des Schächtens bei der Kommission lobbyiert.
Daneben interessant: Die europäische Föderation der Muslimbrüder (FIOE) hat einen „Europäischen Rat für Fatwa und Forschung“ (Conseil européen pour la fatwa et la recherche, CEFR) gegründet. Dieser CEFR gibt islamische Rechtsmeinungen speziell für die Muslime Europas heraus. Auch eine Art Investitionsfonds für die Belange der Muslimbrüder in Europa existiert mit dem „Europe Trust“, unter der Ägide der Muslimbrüder-Föderation.
In Deutschland gehört die Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG) der FIOE an und gilt als muslimbrüdernah. Als Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD) war sie 1994 Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD). Erst 2022 wurde die DMG aus dem Zentralrat ausgeschlossen, aber ihr werden noch immer zahlreiche Moscheen in Deutschland zugeschrieben.
Weit vorne im Kampf gegen die „Bruderschaft“ sind die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), wo das quasi zur Staatsdoktrin gehört. Eine Terrorliste der VAE von 2014 enthält alle Muslimbrüder-Ableger, also ebenso die europaweite „Föderation“ FIOE wie auch die DMG und den französischen Ableger „Musulmans de France“. Der Front national (FN, heute RN) forderte damals umgehend das Verbot der Vereinigung in Frankreich, auch der konservative Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, konnte sich so etwas schon vor Jahren vorstellen.
Im Innenministerium gibt man zu, dass der neue Bericht „inhaltlich keine Revolution“ sei, aber immerhin „die Gefahr endlich offiziell benannt“ werde. Gefordert wird nun, das Bewusstsein zu den Effekten des „Islamismus in Frankreich“ zu schärfen.
Einer hat Retailleau aber noch am Mittwoch zurückgepfiffen: Präsident Emmanuel Macron. Er verstehe die „Euphorie“ einiger, sagte Macron, aber man müsse „die Dinge beruhigen“, dürfe die Situation nicht verschärfen. Das sind logische Worte für einen Präsidenten, der schon seit mehr als fünf Jahren keine Lösung für dieses alte Problem gefunden hat. Macron will bis 2027 ungestört regieren, vielleicht sogar noch in Ruhe einen Nachfolger installieren. Dabei könnte Retailleau ab jetzt stören, wenn er seinen Namen wirksam mit einem populären Projekt verbinden könnte – wie etwa dem Kampf gegen die Muslimbrüder.
Macron hat ihn angesichts der „Schwere der Fakten“ zur Vorlage konkreter Vorschläge aufgefordert. Aber so ganz glaubt man noch nicht, dass nun auch Taten folgen werden, zumal es ja schon vor vier Jahren mit allerhand Undienlichem versucht wurde. Der Retailleau-Vertraute – eine Art französischer Linnemann – will die Waffen jedenfalls noch nicht strecken. Man habe Ansatzpunkte. Die Bedrohung erscheine derzeit noch eher „zurückhaltend“, „diskret“. Das Ziel der Muslimbrüder sei gleichwohl die „Destabilisierung“ des Staates „auf lange Sicht“. Der Retailleau-Zirkel will sich nun vielleicht gar mit den ausländischen Financiers der „Brüder“ anlegen – also mit der Türkei, Kuweit und Katar (auch Saudi-Arabien?), vielleicht sogar auf das Risiko diplomatischer Auswirkungen hin.
Im Inneren will Retailleau die eigenen Bataillone des Staates besser organisieren, und das sowohl bei den Geheimdiensten als auch bei den Staatsanwaltschaften. Schon länger bestehende „Zellen zur Bekämpfung des Islamismus und des Rückzugs in die Gemeinschaft“ sollen von sofort an die „islamistischen Ökosysteme“ angreifen können. Er erwartet die Beihilfe von anderen Ministerien und staatlichen Stellen. Ein wenig soll das der bisherigen Organisationsstruktur gegen den Terrorismus ähneln. Man kennt das ja vom deutschen Kampf gegen Clans. Eine Stelle allein ist schnell aufgeschmissen.