
Dass Bernd Zeller über unbekannte Kanäle Quellen anzapft, die Normalexistenzen nicht zur Verfügung stehen, ahnten manche Kenner seiner Zeichnungen schon. Seit seiner alternativen Merkel-Biografie „Frechheit“ kann es jeder seiner Leser wissen. Denn Zellers Band lag schon fix und fertig vor, als in Berlin nur einige wenige Vorabexemplare des Ex-Kanzlerinnenrechenschaftsberichts in die Hände der vertrauenswürdigsten Medienschaffenden gelangten. Mit anderen Worten: Er konnte das Werk der Uckermärkerin nicht kennen, jedenfalls nicht das gedruckte.
Trotzdem oder gerade deswegen, jedenfalls dessen ungeachtet trifft Bernd Zeller den Merkelschen Ton und Geist besser als sie selbst. Das liegt zum einen an der Verdichtung des Materials: Während sie 736 Seiten braucht, um möglichst nichts preiszugeben, kommt er auf 68 Seiten zu ihrem Wesenskern, wobei Text und Zeichnungen auch noch etwa im Verhältnis eins zu neun stehen. Bernd Zeller beherrscht den passiv-aggressiven, wichtigtuerischen, kurzschlüssigen und auf Mentalitätsausbeutung optimierten Merkelsprech so perfekt, dass er ihm nur noch ein kleinstes Korn Satire hinzufügen muss. Merkels kommentierter Terminkalender verhält sich also zu Bernd Zellers Weiterverarbeitung ungefähr so wie ein Fasan zu dem Faisan de presse, den Gustav Horcher ehemals in Berlin servierte. Zu dessen Methode gehörte es, den gegarten Vogel mitsamt seinen Knochen durch die Presse zu jagen und das Substrat anschließend anzuzünden, also zu flambieren.
Bei Zeller schreibt eine Angela-Merkel-Figur nicht nur ihren Lebenslauf, sondern Weltgeschichte. Und das im Wortsinn, denn bei ihm beginnt alles mit ihr. Beziehungsweise: Sie denkt und kommentiert alles vom Anfang her, wobei sie Niederlagen durchaus freimütig einräumt. „Für den Ausstieg aus dem Feuer fand sich keine Mehrheit“, schreibt sie über ihr Wirken in der Urzeit: „Was das Verbrennen für die Weltdurchschnittslufttemperatur bedeuten würde, habe auch ich nicht in aller Konsequenz abgesehen. Dass es sich um eine Hochrisikotechnologie handelte, war hingegen klar. Ich lernte, dass mehr Geschicklichkeit nötig sein würde, um kühne Handlungen durchzusetzen.“
Bernd Zellers ewige Merkel betätigt sich als nimmermüde Rädchenschmiererin der jeweils bestehenden Ordnung, die einzige Konstante über alle Zeitalter hinweg besteht darin, dass sie mahnt, warnt, immer das kleinere Übel durchsetzt und grundsätzlich den sogenannten Menschen die Zügel straff anzieht. „Die Bewilligung der Druckkostenzuschüsse für den Hexenhammer war auch so ein Kampf, der viel Überzeugungskraft kostete“, lautet etwa ihre Mittelalterbilanz: „Im Großen und Ganzen ist nichts schiefgelaufen. Wer fand, die Inquisition ging schon ziemlich weit, der sollte sich die Gegenfrage gefallen lassen: Glaubst du denn, unter Hexen wäre es besser?“
Natürlich bekommen die jeweiligen Zeitgenossen Noten von ihr, beispielsweise Luther: „Ein Wurf mit dem Tintenfass ist jedenfalls kein Mittel in der theologischen Debatte.“ Wie gesagt: Ihre Kunst, das Vage, Platte und Konforme mit dem Schnippischen zu verbinden, macht Zeller niemand nach – selbst sein Subjekt der Beschreibung nicht.
Wenn sich die überechte Version der Exkanzlerin der Gegenwart nähert, erfährt sie eine Profilschärfung, paradoxerweise dadurch, dass in ihr auch andere historische Figuren aufscheinen. Welche, das kann jeder studieren, der in Zellers Zeichnungen seine raffinierten Zitate historischer Bilder erkennt.
In Schrift und Bild schält sich der merkelsche Nukleus präziser als in sämtlichen anderen Büchern über sie heraus (doch, so etwas wie einen Kern gibt es bei ihr tatsächlich, wenn auch einen sehr speziellen): Sie ist überall dabei, nie für irgendetwas verantwortlich, weiß aber stets, wie die Dinge zu laufen haben oder hätten laufen müssen. Und zwar nirgends besser und schöner als 1949: „Bei der Aufteilung der Besatzungszonen herrschte keine glückliche Auswahl. Die sowjetische Zone hätte im Westen liegen müssen. Da hätte die DDR funktioniert.“
Das gute Fiktionale zeichnet meist ein schärferes Bild der Realität als ein Sachbuch, von der Zeitung einmal ganz abgesehen. Bernd Zellers „Frechheit“ beantwortet endlich das bisher als unlösbar geltende Rätsel Nummer eins, welche Person Deutschland 16 Jahre lang regierte. Und auch das zweite, warum sie die tiefen Gefühlig- und Gefügigkeitsschichten der Deutschen so erfolgreich anzapfen konnte. Nach all den geschichtlichen Erfahrungen fühlten sich viele Bewohner dieses Landes eben bei einer Art Internatsleiterin gut aufgehoben. Deshalb wählten ja auch nicht ganz wenige einen Hausmeister mit Gedächtnisproblemen zu ihrem Nachfolger.
Zellers Buch ist zwar nicht billiger als das von Angela Merkel, dafür aber deutlich preisgünstiger. Es fördert Erkenntnisse. Laut Amazon werden beide „oft zusammen gekauft“; das muss nicht sein. „Frechheit“ ersetzt „Freiheit“ nicht nur vollständig, sondern geht weit darüber hinaus.
Bernd Zeller, Frechheit. Die alternativlose Autobiografie von Angela Merkel. Solibro Verlag, Hardcover mit Überzug, 68 Seiten, 20,00 €