
Neun minderjährige Mädchen berichten unabhängig voneinander von sexuellen Übergriffen in einem Freibad – und die Polizei lässt die vier syrischen Tatverdächtigen noch am selben Tag wieder gehen. Keine Untersuchungshaft, keine Warnung an die Landesregierung. Nicht einmal eine interne Meldung an den Innenminister. Der erfährt vom Vorfall – wie jeder andere – aus der öffentlichen Pressemitteilung der Polizei. Was nach einem Einzelfall aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Folge eines Staatsversagens. Denn auch auf bundesweite NIUS-Recherchen zu ähnlichen Vorfällen zeigt sich: Täterhintergründe werden oft nicht ermittelt, nicht dokumentiert – oder je nach Ländervorgaben nicht genannt. Und das hat System.
Sonntag, 22. Juni Gelnhausen – das Thermometer zeigt Höchsttemperaturen, wie es das, üblich zu dieser Jahreszeit, auch schon vor Jahrzehnten getan hat. Neun minderjährige Mädchen im Alter zwischen elf und 17 Jahren melden sich unabhängig voneinander beim Bademeister. Sie berichten von unsittlichen Berührungen, Grapschen durch junge Männer. Die Polizei wird gerufen, nimmt vier syrische Tatverdächtige mit, führt eine erste Anhörung der Opfer durch – und entlässt die Männer noch am selben Tag, da angeblich „keine Wiederholungsgefahr“ drohe.
Allein das wirft Fragen auf.
Denn die öffentlich bekannten Details deuten auf ein schwerwiegenderes, systematischeres Geschehen hin:
All das spricht nicht für spontane, situative Grenzüberschreitungen, sondern eher für ein planmäßiges, vorsätzliches und wiederholtes Verhalten.
Auf Anfrage von NIUS wollte sich die Staatsanwaltschaft Hanau, die für Gelnhausen zuständig ist, zu diesen konkreten Umständen nicht weiter äußern. Es werde nun „umfangreiche Zeugenvernehmungen“ geben. Doch bis auf Weiteres bleibt festzuhalten: neun Mädchen, vier Männer, kein Haftantrag.
Das Freibad im Jahr 1989 – damals gab es die extreme Freibadgewalt noch nicht. Foto: Schwimmbad Köln-Müngersdorf.
Der rechtliche Maßstab für einen Haftantrag mag hoch liegen. Jedoch gilt: Gerade bei Straftaten gegen Kinder in öffentlichen Räumen steht die Frage nach der Signalwirkung im Raum. Warum wird hier kein anderer Maßstab angelegt?
Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft ihr Vorgehen, die Tatverdächtigen auf freien Fuß zu setzen, damit begründet, dass „keine Wiederholungsgefahr“ drohe. Daher hat NIUS konkret nachgefragt:
Die Antwort fiel, wie gesagt, ausweichend und abstrakt aus, beantwortete nicht die Fragen. Man verwies auf laufende Ermittlungen und „ermittlungstaktische Gründe“.
Doch der gravierendste Teil dieser Geschichte wird erst mit zeitlichem Abstand sichtbar: Die Polizei meldete den Vorfall nicht behördenintern an das hessische Innenministerium, wie sich aus einer Antwort auf eine Anfrage rekonstruieren lässt, die NIUS dem hessischen Innenministerium stellte.
Angesichts der Tatsache, dass sich Hessens Innenminister und Gelnhausens Bürgermeister erst etwa eine Woche nach den fürchterlichen Geschehnissen öffentlich äußerten, fragte NIUS das Innenministerium:
Die Antwort ist genauso ausweichend wie vielsagend. Ein Pressesprecher teilte mit:
„Die Polizei hat am Montag, 23. Juni, die Öffentlichkeit über den Vorfall informiert. Damit hat auch das Innenministerium Kenntnis von dem Vorfall gehabt. Auch der Innenminister wurde zeitnah informiert.“ (Herv. durch d. Redaktion.)
Dieses eine Wort – „damit“ – hat es in sich. Es bedeutet nichts anderes, als dass das Ministerium nicht durch einen behördlichen Meldeweg, sondern durch die Veröffentlichung der Polizeimeldung über die Geschehnisse informiert wurde. Auf die konkrete Frage von NIUS, wann genau der Minister informiert wurde, heißt es, dass er nach der Pressemitteilung „zeitnah informiert“ wurde. Der Informationsfluss verlief nicht innerhalb der Exekutive, sondern über die Öffentlichkeit.
Das Ministerium hat also nicht eigenständig über die Lage verfügt, sondern wurde wie ein Leser der Presse in Kenntnis gesetzt. Eben deshalb meldete sich der Innenminister erst so spät – nach etwa einer Woche – öffentlich zu Wort.
Die Frage steht im Raum: Wie kann es sein, dass ein Fall dieser Tragweite nicht automatisch an die politische Spitze des Landes weitergegeben wird? Wurde die Tragweite unterschätzt? Gab es ein Kommunikationsversagen? Oder war es ein bewusstes Stillhalten? Hinzu kommt: Die ursprüngliche Polizeimeldung vom 23. Juni war auffallend verharmlosend formuliert. Dort hieß es unter anderem: „Zudem erlitt die 12-Jährige eine blutige Nase.“
Es ist ein Satz, der den Eindruck entstehen lässt, es habe sich um eine Rauferei oder ein Missverständnis gehandelt – nicht um eine Reihe möglicher Sexualdelikte. NIUS fand heraus, dass zwei Syrer (18, 20) das Mädchen so fest auf den Boden des Schwimmbeckens drückten, dass ihre Nase blutete, womit der Verdacht begründet ist, dass die beiden sie ertränken wollten – oder dies mindestens in Kauf nahmen.
Das hessische Innenministerium hatte keinen Frühüberblick. Es wurde nicht von den eigenen Sicherheitsbehörden informiert, sondern durch eine Pressemitteilung der nachgeordneten Polizei. Dass dieser Ablauf bei einem solchen Vorfall möglich ist, wirft allerdings nicht nur ernste Fragen zur Krisenkommunikation im hessischen Sicherheitsapparat auf, sondern zum bundesweiten Umgang mit Freibadgewalt – ein Wort, für das es vor zwanzig Jahren noch keinen dringlichen Bedarf gegeben hätte.
Hessens Innenminister äußerte sich erst eine Woche nach dem Freibad-Skandal in Gelnhausen zu Wort.
Im Zuge seiner Recherchen hat NIUS bundesweit Polizeimeldungen zu Gewalt in Schwimmbädern ausgewertet und bei den zuständigen Pressestellen gezielt nach den Täterhintergründen gefragt. Das Ergebnis ist ernüchternd – und offenbart ein grundsätzliches Problem.
Denn es zeigt sich ein Muster: In vielen Fällen fehlen Angaben zu Nationalität, kulturellem Hintergrund der Tatverdächtigen. Mal wird mit Verweis auf Staatsanwaltschaften abgewiegelt, mal heißt es, solche Angaben seien für die Beurteilung des Sachverhalts „nicht relevant“. Und je nach Bundesland oder Polizeiführung ist die Auskunftsfreude sehr unterschiedlich. Das liegt am bundesweiten Flickenteppich, der nicht einheitlich regelt, welche Auskünfte diesbezüglich gegenüber Journalisten gemacht werden.
Doch es scheint auch mit der inneren Haltung der Beamten zusammenzuhängen.
Zwei Typen von Polizisten treten dabei besonders hervor: Der überzeugte Schweiger, der aus Prinzip keine Tätermerkmale preisgeben will – ganz gleich, wie groß das öffentliche Interesse ist. Und auf der anderen Seite der pragmatische, auskunftsfreudige Polizist, der bereitwillig die Fragen beantwortet, die man ihm stellt, ohne Misstrauen und schwelenden Rassismus-Vorwurf. Doch auch letzterer Typ kann das strukturelle Problem nicht lösen, dass kein institutionalisiertes Erkenntnisinteresse besteht.
Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist ein Vorfall im Freibad von Fellbach (Baden-Württemberg). Dort gerieten laut Polizeimeldung rund 20 Personen in eine gewaltsame Auseinandersetzung. Als die Polizisten eintrafen, war die Gruppe verschwunden. Auf Nachfrage von NIUS, ob es Hinweise auf den kulturellen oder ethnischen Hintergrund der Beteiligten gibt, antwortete die Polizei, dass ihr darüber keine Informationen vorliegen.
Das bedeutet: Die Polizei hat offensichtlich weder den Bademeister noch anwesende Zeugen befragt, wer die Gruppe war oder wie sie ausgesehen hat. Denn sonst gäbe es zumindest vage Beschreibungen. Stattdessen wurde der Vorfall einfach abgehakt – und blieb behördenintern folgenlos. Dieses Vorgehen ist Ausdruck eines strukturellen Problems. Bundesweit hat die Polizei offenbar keine eindeutige dienstliche Anweisung, Tätermerkmale systematisch zu erfragen oder zu dokumentieren. Ohne eine klare Weisung von oben, etwa aus den Innenministerien der Länder, bleiben viele Vorfälle im Nebel. Die Öffentlichkeit erfährt nur, was die Behörde mitteilen will – und das ist oft: nichts.
So entsteht eine Kultur des institutionellen Wegschauens.
Dabei wäre Transparenz gerade bei öffentlichen Tatorten wie Freibädern entscheidend. Es geht nicht um Stigmatisierung – es geht um Sicherheit, Aufklärung und Vertrauen. Und um die einfache Erkenntnis: Wenn der Staat bestimmte Realitäten nicht sehen will, wird er ihnen auch nicht begegnen können.
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