
Über 328 Stimmen verfügen CDU, CSU und SPD zusammen im Bundestag. Laut Präsidentin Julia Klöckner (CDU) waren alle 630 Abgeordnete des Hauses am Dienstag zur Abstimmung in den Reichstag gekommen. Doch nur 621 Abgeordnete gaben im ersten Wahlgang ihre Stimmen ab, einer davon machte seine ungültig. Zwar erreichte Merz noch eine relative Mehrheit von 310 zu 307 Stimmen bei drei Enthaltungen. Doch im ersten Wahlgang hätte Merz eine absolute Mehrheit benötigt, also mindestens 316 von 630 Stimmen.
Nun kann Merz im zweiten Wahlgang gewählt werden. Der beginnt gegen 15.15 Uhr. Eigentlich wäre das laut Satzung nicht möglich gewesen. Doch eine Sonderklausel sieht vor, dass ein zweiter Wahlgang am gleichen Tag stattfinden kann, wenn eine Mehrheit von zwei Drittel der Stimmen dies befürwortet. Dies war möglich, weil Friedrich Merz und die Union sich an die Linken gewandt haben und diese zugestimmt haben. Merz macht dafür seinen Hattrick komplett: Für seine Kanzlerschaft verbeugt er sich nicht nur bis zur Erkenntnislosigkeit vor der SPD und den Grünen – sondern nun auch vor der Linken. Obwohl die Union ausdrücklich beschlossen hat, nicht mit den indirekten Nachfolgern der SED zusammenarbeiten.
Hinter diesen Szenarien versteckt sich noch viel Konjunktiv. Genauso wie hinter der Suche nach den Verrätern. Sicher ist nur, dass es die gegeben haben muss. Über 328 Stimmen verfügen CDU, CSU und SPD im Bundestag zusammen, nur 310 davon hat Merz erhalten. Vorausgesetzt, dass der CDU-Chef keine Stimmen aus den Reihen der Opposition erhalten hat, dann haben ihm 18 Abgeordnete der Regierungsfraktionen die Stimme verweigert. Im anderen Fall sogar mehr.
Wer sind nun diese mindestens 18 Verräter und was treibt sie an? Die Bild spekuliert, dass es sich um die SPD-Vorsitzende Saskia Esken und ihren engeren Vertrautenkreis handeln könnte. Aus Rache für die Nicht-Berücksichtigung Eskens im Kabinett. Eine Möglichkeit. Auch denkbar, dass es sich um Linke aus der SPD und deren Nachwuchs-Organisation Jusos handelt. Aus Rache für die Abstimmung gegen die illegale Einwanderung, die Merz im Januar mit Hilfe der AfD durchgesetzt hat.
Ein denkbares Szenario ist aber auch, dass die Verräter aus Reihen von CDU und CSU kamen. Sie haben einen Wahlkampf gemacht für niedrigere Steuern, einen härteren Kampf gegen illegale Einwanderung und für eine seriöse Haushaltspolitik. Das alles hat ihr Spitzenkandidat ebenfalls versprochen. Doch unmittelbar nach der Wahl hat Merz angekündigt, für die Bürger werde alles teurer, da ließe sich nichts machen. Zwar wolle er gegen illegale Einwanderung vorgehen, aber nur wenn alle EU-Partner damit einverstanden seien. Außerdem pulverisierte Merz die Schuldenbremse und machte eine Neuverschuldung von rund einer Billion Euro möglich. Dem Spitzenkandidaten machte es offensichtlich nichts aus, dass sein Wort nichts wert war – möglich, dass es 18 Abgeordnete aus Reihen der Union anders gesehen haben. Nun auch noch die Zusammenarbeit mit den Linken. Merz wird für immer mehr CDU-Mitglieder zur Enttäuschung und zur aufgedeckten Lebenslüge.
All seine neun Vorgänger haben eine solche Schmach nicht erlebt. Von Konrad Adenauer bis Olaf Scholz haben es alle geschafft, sich ihre Mehrheit zu sichern. Auch wenn die nur aus einer Stimme bestand, statt wie bei Merz – theoretisch – aus zwölf Stimmen. Wenn überhaupt, dann startet Merz in seine Kanzlerschaft zuerst als Wortbrüchiger, Gescheiterter und nun auch als Kollaborateur mit den Linken. Als Mann, der nicht einmal seine eigenen Leute hinter sich versammeln kann. Dass da kein Optimismus in der Bevölkerung aufkommt. Dass da nur wenige glauben, dass die Formation aus CDU, CSU und SPD die gewaltigen Probleme des Landes bewältigen kann – wen wundert’s?
Friedrich Merz gehört zu einer Allparteienkoalition aus CDU, CSU, SPD, Grünen und Linken, die sich den Erhalt der „Brandmauer“ zum obersten Ziel gemacht hat. Die Ausgrenzung der größten Oppositionspartei ist das einzige Ziel, das diese Parteien noch energisch verfolgen – und dass sie erreichen. Nur klappt halt sonst nichts mehr. Derweil schrumpft die Wirtschaft im dritten Jahr in Folge, können Städte und Gemeinden die Folgen der illegalen Einwanderung nicht mehr schultern, wächst die Zahl der Gewaltverbrechen, sinkt das Bildungsniveau im internationalen Vergleich und ist die Armee nicht verteidigungsfähig – laut ihres eigenen Verteidigungsministers.
Eine Wahl von Merz im zweiten oder dritten Wahlgang. Eine rot-grüne Minderheitsregierung. Neuwahlen. Derzeit ist vieles möglich. Vieles unsicher, etwa die Frage, wer die Verräter in Reihen von CDU, CSU und SPD waren. Nur eins ist offensichtlich: Das politische Personal der Allparteienkoalition hat die Lage nicht im Griff. Statt sich nur darum zu kümmern, die AfD außen vor zu halten, sollten sie sich dringend mal wieder um die Problemlösung bemühen. Gelingt ihnen das weiter so schlecht wie bisher, dann wird die AfD als größte und deutlich erkennbarste Oppositionspartei weiter zulegen. Jenseits der „Brandmauer“ scheint es auch keine Mehrheit zu geben, wie zuerst die Ampel und nun Union und SPD bewiesen haben.