
Manchmal sollte man Wörter wirklich auch wörtlich nehmen, um zu ihrem Kern vorzudringen. Enttäuschung, zum Beispiel, ist eine Ent-Täuschung. Sie ist also eine Täuschung, meistens eine Selbsttäuschung, die dann auffliegt.
Wer heute von Friedrich Merz enttäuscht ist, der war in den vergangenen Jahren genau einer solchen Selbsttäuschung erlegen: darüber, was den Mann tatsächlich ausmacht.
*****
Der Bundestag erlebt nicht allzu oft Momente, die sich ins kollektive Gedächtnis des Landes einbrennen: der wie ein Häufchen Elend in seinem Sitz versunkene Rainer Barzel nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Willy Brandt. Oder der gerade abgewählte Helmut Schmidt, der mit versteinerter Miene seinem Nachfolger Helmut Kohl gratuliert. Oder die Abgeordneten, die sich spontan zum Singen der Nationalhymne erheben, als die Nachricht vom Fall der Mauer kommt.
Es sind ikonische Momente, und so einen hat jetzt auch Friedrich Merz geschaffen. Ungewollt, versteht sich:
Manche Kommentatoren haben hier einen „Arroganzanfall“ gesehen, doch das stimmt nicht. Ein Anfall ist eine plötzliche Abweichung vom Normalzustand. Sein überheblich hingerotztes „Ja“ auf die (kluge) Frage der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch dagegen war für den Kanzler ein geradezu typischer Moment.
Würde Friedrich Merz eine Dating-App nutzen – es wäre Elite-Partner.
*****
„Nehmt euch in Acht vor alten Männern, denn sie haben nichts zu verlieren.“ Das hat der irische Dramatiker George Bernard Shaw gesagt. Friedrich Merz wird – nach einer Karriere ausschließlich in der Politik und im Lobbyismus, die ihn reich gemacht hat – im November 70 und hat endlich sein Lebensziel erreicht. Da kann man auf unnützes Beiwerk verzichten.
Zum Beispiel auf das Vortäuschen von Überzeugungen.
Der Sprössling einer Juristen- und Politikerfamilie erkannte früh, wo mit erträglichem Aufwand maximaler Ertrag zu holen ist. 1989 kandidierte er für das EU-Parlament. Das galt damals noch als Resterampe für Parteisoldaten, die sich in der nationalen deutschen Politik nicht durchsetzen konnten oder ausgemustert wurden.
Mit den Erfahrungen und Kontakten aus Brüssel im Gepäck wechselte er 1994 in die Bundespolitik. Auch hier achtete Merz auf ein angenehmes Preis-Leistungs-Verhältnis: Er übernahm den heimischen Wahlkreis Hochsauerland – eine sichere CDU-Hochburg, in der seit Gründung der Bundesrepublik nie ein Kandidat einer anderen Partei gewählt worden war. Im Bundestag sah er schnell eine vielversprechende politische Leerstelle: Der Union fehlte ein kerniger Wirtschaftsexperte. Merz okkupierte die Rolle, sein unbestreitbares Talent als Redner half dabei. Er stieg bis zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden auf.
Das wäre er wohl auch ewig geblieben, wenn die CDU-Spendenaffäre nicht erst Helmut Kohl und dann Wolfgang Schäuble fortgeschwemmt hätte. Viele haben längst vergessen, dass die Bundestagsfraktion der Union nach Schäubles Abgang im Jahr 2000 geradezu panisch einen Nachfolger suchte. Merz war keineswegs die erste Wahl, aber alle anderen Favoriten sagten ab: Sie wollten nicht Steigbügelhalter für den damaligen CSU-Chef Edmund Stoiber sein, der schon als wahrscheinlicher Kanzlerkandidat galt.
Friedrich Merz sagte nicht ab.
Er selbst sah sich vermutlich weder als Übergangs- noch gar als Notlösung, aber genau das war er. Das wurde 2002 deutlich, als Angela Merkel erfolgreich nach dem Fraktionsvorsitz griff. Merz musste zurück ins zweite Glied – „mit der Faust in der Tasche“, wie er später selbst sagte. Aber Politik ist ein Wettbewerb um Macht, und der Machtmensch Merkel hatte den Möchtegern Merz eben eiskalt abserviert. Zwei Jahre später warf er entnervt hin, verließ die Politik und wurde kurz darauf ein fürstlich entlohnter Lobbyist.
Im Jahr 2018 kündigte die angeschlagene Angela Merkel ihren Rückzug von der CDU-Spitze an. Merz erkannte – man sieht das Muster – die Gelegenheit, es Merkel heimzuzahlen: Beim Bundesparteitag kandidierte er für den Parteivorsitz. Doch Merkel war wieder stärker: Es gewann ihre Wunschkandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer. Schon 2020 gab auch sie auf. Merz trat erneut für den Parteivorsitz an – und verlor erneut, diesmal gegen den damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet.
Bei der Bundestagswahl 2021 kicherte Laschet die CDU bekanntlich in eine fulminante Niederlage, und die Partei suchte – schon wieder – einen neuen Vorsitzenden. Merz kandidierte, schon wieder. Diesmal gewann er. Wenig später wählte ihn auch die Bundestagsfraktion der CDU/CSU zum Vorsitzenden.
Fast genau 20 Jahre, nachdem Angela Merkel ihn in der CDU abgemeiert hatte, war Friedrich Merz also wieder zurück. Zweimal hatten die Merkelianer in der CDU ihm den Weg an die Parteispitze verwehrt, aber er gab nicht auf und war beim dritten Anlauf schließlich erfolgreich.
Wenn es irgendetwas Bemerkenswertes an dem Mann gibt, dann ist es seine Beharrlichkeit.
*****
Wie Angela Merkel die CDU inhaltlich entkernt hat, ist oft beschrieben worden: Atomenergie, Wehrpflicht, Homo-Ehe, Migration. Man kennt das. Zu selten wird beschrieben, wie groß die Abrissbirne ist, mit der Friedrich Merz im Tafelsilber der Union gewütet hat (und immer noch wütet). Auf seinem erst spät erfolgreichen Weg an die Spitze der CDU hat er offenbar ein Erfolgsrezept ausgemacht:
Versprich’ den Leuten, was die Leute wollen – und tue dann, was du willst.
Merz wurde mit dem Versprechen Parteivorsitzender, die grüne und anti-konservative Politik von Angela Merkel sukzessive zu beenden. Kaum im Amt, tat er das exakte Gegenteil. Der geschätzte Kollege Mario Thurnes hat völlig zutreffend bemerkt: „Wenn Merz aus Versehen eine konservative Äußerung entschlüpfte, entschuldigte er sich stets innerhalb von zwölf Stunden.“
Er setzte eine Frauenquote durch, die Frauen einen deutlich höheren Anteil an Führungspositionen in der Partei zugesteht, als es überhaupt Frauen in der CDU gibt. Er setzte durch, dass es bei der Wahl des Bundespräsidenten keine christdemokratische Alternative zum sozialdemokratischen Merkel-Komplizen Frank-Walter Steinmeier gab. Er setzte durch, dass die skandalgeplagte Merkel-Vertraute Ursula von der Leyen sich eine zweite Amtszeit lang als Präsidentin der EU-Kommission eine goldene Nase verdienen kann.
Im vergangenen Bundestagswahlkampf machte Merz exakt dasselbe.
Er versprach den Menschen ein Ende des Schuldenmachens auf Kosten künftiger Generationen. Nach der Wahl veranstaltete er als allererstes die größte Schuldenorgie in der deutschen Geschichte – was er, wie wir inzwischen wissen, schon lange vorher geplant hatte. Im Wahlkampf versprach Merz die Abschaffung der Stromsteuer. Nach der Wahl stimmt er nun zu, dass die Stromsteuer bleibt. Im Wahlkampf versprach er, illegale Migranten an den Grenzen zurückzuweisen und den Familiennachzug „ab Tag 1“ seiner Kanzlerschaft zu stoppen. Jetzt, nach der Wahl, ist davon nichts übrig.
Ein paar Millionen Menschen in Deutschland hatten den Merz’schen Versprechungen geglaubt und deshalb gehofft, der Mann werde aus Überzeugung die schlimmsten Fehler der Ampel korrigieren. Sie stellen jetzt fest, dass da gar keine Überzeugung ist – und dass deshalb auch nichts korrigiert wird.
• Die deutschfeindliche grünen-nahe Migrationsaktivistin Ferda Ataman ist immer noch „Antidiskriminierungsbeauftragte“ des Bundes. • Der industriefeindliche grüne Klima-Aktivist Klaus Müller ist immer noch Präsident der Bundesnetzagentur. • Das „Selbstbestimmungsgesetz“ – das das Aussprechen biologischer Tatsachen unter Strafe stellt – wird nicht abgeschafft. • Die „Nichtregierungsorganisationen“ (NGOs), die in Wahrheit eine Art Sammelkasse zur Finanzierung grün-linker Aktivisten sind, werden weiter mit Milliarden aus der Staatskasse gemästet. • Der öffentlich-rechtliche Rundfunk macht, dank Milliarden an Zwangsgebühren, weiter grün-linke Propaganda – zum Beispiel verbreitet er, dass nicht berufstätige Hausfrauen zu „rechten Ideologien“ gehören:
*****
Und der Bundeskanzler Friedrich Merz führt nicht nur praktisch jeden alten Unsinn fort, den die Ampel begonnen hat. Er und seine Partei machen auch munter und fleißig jede Menge neuen Unsinn:
Unter Merz schluckt die CDU den Plan der SPD, dass lesbische Frauen auch dann ab der Geburt als leibliche Mütter gelten, wenn sie das Kind gar nicht geboren haben.
Unter Merz schluckt die CDU den Plan der SPD, dass Vermieter künftig nicht nur unrechtmäßig zu viel kassierte Mieten an die Mieter zurückzahlen müssen, sondern auch noch ein Bußgeld bezahlen sollen. Das heißt, dass der Staat künftig direkt in jeden privaten Vertrag eingreifen will.
Unter Merz will die CDU in Berlin erlauben, dass Lehrerinnen Kopftuch tragen dürfen – während in Bayern gerade verboten wird, dass Kruzifixe in den Klassenräumen hängen.
Unter Merz lässt die CDU mit großem PR-Getöse das Aufhängen der Regenbogenflagge vor öffentlichen Gebäuden verbieten. Doch als der Finanzminister und SPD-Chef das Verbot dann einfach ignoriert, passiert: nichts.
Unter Merz schmeichelt sich die CDU in Person des Außenministers Wadephul bei der militanten Antifa ein und sorgt sich öffentlich um linksextremistische Gewalttäter wie „Maja T.“.
Unter Merz will die CDU das Informationsfreiheitsgesetz abschaffen, das Behörden dazu verpflichtet, auf Bürger- oder Journalistenanfrage Verträge, Akten oder Mailverkehr offenzulegen.
Unter Merz will die CDU die Meinungs- und Redefreiheit ganz im Sinne des grün-linken Milieus radikal beschneiden.
So könnten wir ewig weitermachen.
*****
Das alles ist kein Zufall.
Friedrich Merz ist ein Kind der politischen Klasse Deutschlands. Das heißt, er ist führender Repräsentant einer selbsternannten Funktionselite, die mittlerweile nahezu jeden Kontakt zum Leben, Denken und Fühlen der normalen Menschen verloren hat. Mario Thurnes beschreibt das Denkgebäude des deutschen Kanzlers hellsichtig so:
„‚Transformation‘, was in der Praxis bedeutet, das Geld der Privatwirtschaft zu entziehen, um gigantische staatliche Projekte der Planwirtschaft durchzuziehen. Grenzenlose illegale Migration zu fördern. Tabuisierung von Kritik an dieser Migration inklusive der rechtsstaatlichen Verfolgung der Kritiker. Ein Aushebeln der Meinungsfreiheit über kommunistische Kampfbegriffe wie ‚Kampf gegen Hassrede‘.“
Das war auch die Ideologie von Angela Merkel. Auch sie, kalt bis ans Herz, nutzte alles, was das Land, seine Wähler und ihre Partei ihr an Machtgelegenheiten angeboten haben.
Aber Merkel hatte auch ein Gespür dafür, was sie ihrem Laden zumuten konnte.
Eine Verfassungsrichterin, die Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat mindestens rechtstheoretisch für möglich erklärt, ist vielleicht noch ein paar führenden CDU-Köpfen zuzumuten – den einfachen Abgeordneten aber schon nicht mehr, und erst recht nicht den Wählern und Anhängern.
Um das Gesicht zu wahren, wurde schnell eine dubiose Plagiatsaffäre aus dem Hut gezaubert, wegen der die umstrittene Richterin plötzlich für unwählbar erklärt wird. Das macht alles nur noch schlimmer: Nicht etwa, weil sie das Lebensrecht ungeborener Kinder relativiert, soll eine Kandidatin also für das Bundesverfassungsgericht unwählbar sein – sondern weil sie womöglich abgeschrieben hat?
Für eine Partei mit einer immer noch großen christlichen Basis könnte es kein größeres kommunikatives Desaster geben.
Das alles zeigt, dass dem elitären Technokraten Friedrich Merz nicht nur das Gespür fehlt, das Angela Merkel hatte (und das ihr gegenüber Merz immer den entscheidenden Vorteil brachte). Es legt auch schonungslos offen, dass der Bundeskanzler ein rein taktisches Verhältnis zu fundamentalen Grundwerten seiner Partei hat.
Der arme Jens Spahn könnte einem fast leidtun. Er hatte kommen sehen, was sein Chef nicht kommen sah. Doch auf Geheiß von Merz musste der – wegen der Maskenaffäre selbst schwer belastete – Fraktionsvorsitzende zu retten versuchen, was nun beim besten Willen nicht mehr zu retten war.
Aber zur Wahrheit gehört auch: Das musste irgendwann passieren. Weil Friedrich Merz so ist, wie er ist. Enttäuschen kann das nur jene, die in den vergangenen 30 Jahren nicht richtig hingeguckt haben.