
Friedrich Merz schafft das Unmögliche. Mit nur einem Wort, einem Ja im Bundestag gelang es ihm, sich gegen das CDU-Grundsatzprogramm zu wenden, gegen das Bundesverfassungsgericht, gegen die CDU-Basis. Und zugleich brachte er sonst verfeindete Lager gemeinsam gegen sich auf, linke Reformkatholiken und konservative Bischöfe.
Das Ja des Kanzlers zur SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf, war aber auch ein Angriff auf die tragenden Prinzipien der Bundesrepublik Deutschland. Als Kanzler wie als Parteivorsitzender ist Merz erkennbar überfordert – wie auch immer die Causa Brosius-Gersdorf ausgehen mag.
Nun könnte man einwenden: Ist eine solche Deutung nicht eine massive Überbewertung eines formaljuristisch korrekten Vorgangs? Drei Richter am Bundesverfassungsgericht sind neu zu wählen, der Bundestag ist am Zug. Nach bisheriger Praxis hat die SPD das Vorschlagsrecht für zwei dieser drei Posten.
Die bewährte Praxis stammt aus alten Zeiten, als SPD und Union die Geschicke in Deutschland bestimmten. Heute, da die SPD in Wahlen 16 und in Umfragen 13 Prozent erringt, ist sie mit diesem Procedere heillos überrepräsentiert. Eine Union mit Gestaltungswille und Ehre im Leib sollte das Prinzip anzweifeln. An beidem aber mangelt es der Union und insbesondere dem CDU-Vorsitzenden. Merz wollte Kanzler werden, und jetzt will er Kanzler bleiben. Das ist alles, was man über Friedrich Merz wissen muss.
Am Freitag wird im Bundestag über die Juristin abgestimmt.
Nie aber trat diese innere Leere deutlicher zutage als nun beim düstersten Moment des Politikers Friedrich Merz. Als Kandidat und ewiger Merkel-Widersacher hatte Merz von einem einzigen Ruf, einer einzigen Erwartung gezehrt: dass es mit ihm wieder „CDU pur“ gebe. Mit diesem Motto war sein engster Fahrensmann Carsten Linnemann durch die Lande gezogen.
Mit diesem Auftrag war unter Merz das neue Grundsatzprogramm der CDU erarbeitet worden. Darin finden sich diese drei Sätze: „Wir sind für Lebensschutz. Der Schutz des Lebens in allen Lebenslagen hat für uns Christdemokraten eine überragende Bedeutung. Das ungeborene Leben bedarf unseres besonderen Schutzes.“
Das Ja des Bundeskanzlers galt einer Frage der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch, ob er, Merz, mit seinem Gewissen die Wahl jener Kandidatin Brosius-Gersdorf vereinbaren könne, die einer Menschenwürde erst ab Geburt das Wort rede. Menschenwürde ab Geburt: Mit diesem Konstrukt arbeiten radikale Abtreibungsbefürworter. Wenn dem Menschen im Mutterleib keine Menschenwürde zukommt, fällt er aus der Gattung und ihrer Würde heraus. Mit ihm darf dann verfahren werden, wie es gerade angemessen erscheint.
Vor allem aber: Brosius-Gersdorf macht die Menschenwürde zu einem Gut, das zuerkannt und aberkannt werden kann. Damit stellt sie sich gegen das Grundgesetz, das auf der Unverfügbarkeit der Menschenwürde beruht – und gegen die langjährige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Merz hätte damit also kein Problem. Sein Gewissen wäre nicht belastet, wenn mit seiner Stimme solche Extrempositionen durch die Robe einer Verfassungsrichterin geadelt würden. Der Lebensschutz interessiert ihn also kaum oder gar nicht. Auch die Menschenwürde für geistige Behinderte kann theoretisch unter Vorbehalt gestellt werden, wenn Würde nicht prinzipiell gilt, sondern verdient werden muss.
Nicht nur die „Christdemokraten für das Leben“ sind entsetzt von einem Vorsitzenden, der den Lebensschutz und das Grundsatzprogramm auf dem Altar seiner Machtinteressen opfert. Auch die konservativen katholischen Bischöfe von Regensburg und Passau, Rudolf Voderholzer und Stefan Oster, sind es.
Sogar das linke „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ lässt durch seine Vorsitzende Irme Stetter-Karp mitteilen: „Dass eine Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin öffentlich erklärt, es gebe ‚gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt‘, beunruhigt mich sehr. Ich würde sie aufgrund dieser Position nicht wählen können.“
Merz steht nun nackt da, leer und bloß: als schlecht informierter, skrupelloser und prinzipienarmer Machtpolitiker. Und als Jurist, der zusammen mit der SPD die innere Statik der Bundesrepublik Deutschland aufzugeben bereit wäre.
Vielleicht bleibt der Republik die aktivistische Richterin Kaufhold erspart.
Das Bundesverfassungsgericht kann nur dann allgemeine Akzeptanz genießen, wenn es seinen Aufgaben „in Distanz zur Politik und in Treue zur Verfassung“ nachgeht. So formuliert es der langjährige Verfassungsrichter Dieter Grimm in seinem Standardwerk „Verfassungsgerichtsbarkeit“ von 2021.
Beide SPD-Kandidatinnen, Frauke Brosius-Gersdorf und auch Ann-Katrin Kaufhold, lassen an diesen Bedingungen zweifeln. Union und SPD tragen mit solchen ideologisierten Anwärterinnen zu jenem Eindruck bei, den es laut Grimm unbedingt zu verhindern gilt: Ein Gericht, „das nach dem Parteienproporz zusammengesetzt ist“, schadet „seinem Ansehen, das gerade auf der Überparteilichkeit beruht.“
Vielleicht bleiben der Republik die aktivistischen Richterinnen Kaufhold und Brosius-Gersdorf erspart. Merz‘ düsterster Moment lässt dennoch tief blicken: in die Abgründe einer Politik, die sich vom Mehrheitswillen der Bevölkerung entkoppelt, von den tragenden Prinzipien des Rechtstaats und auch von den Werten der eigenen Partei, um sich die Macht auf der Regierungsbank noch ein Weilchen zu sichern. Eine solche Politik schadet der Demokratie. Solch ein Vorsitzender schadet der CDU. Solch ein Kanzler schadet dem Land.
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