
In der SPD ist die Zeitenwende im Frühjahr 2017 angekommen. Ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz war fulminant in seine Kampagne gestartet. So fulminant, dass die Parteizentrale im Internet schon den „Schulzzug“ über die Konkurrenz hinwegfahren ließ. Doch dann wurde es für einige Wochen merkwürdig ruhig um den potentiell neunten Kanzler der Bundesrepublik. Wie später durchsickerte, hatte ihn Hannelore Kraft um Stillschweigen gebeten. Er sollte nicht durch unbedachte Äußerungen ihren Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen stören.
Der siebte und seinerzeit letzte sozialdemokratische Kanzler war Gerd Schröder. Hand nach oben: Wer wäre nicht gerne dabei gewesen, wenn ein Landesfürst mit der Bitte an Schröder herangetreten wäre, doch mal für vier Wochen die Klappe zu halten, um im Wahlkampf nicht zu stören? Gerne auch eine Fürstin. Wer hätte sich nicht darüber amüsiert, wie Schröder dieses bedauernswerte Stück Mensch zur Schnecke gemacht hätte? Nur ist etwas Vergleichbares unter dem „Kanzler der Bosse“ halt nie passiert. Martin Schulz war – zwölf Jahre nach Schröder – der erste Kanzlerkandidat der SPD, der dem Typus des Prügelknaben entsprach.
Die Dynastie der Prügelknaben im Kanzleramt begründet hat indes Angela Merkel. Die siebte deutsche Kanzlerin galt von Beginn ihrer Amtszeit als bescheiden und selbstlos. Das war so eine dreiste Lüge, dass Genosse Merz es heutzutage eigentlich verdient hätte, als der „Ehrliche Fritz“ in die Geschichtsbücher einzugehen. Kein anderer Regierungschef der Bundesrepublik war in seinem Handeln so von sich selbst erfüllt wie die Kanzlerin. Merkel war bereit, ein ganzes Land vor den Bus zu schubsen, nur um selbst keine schlechten Bilder zu bekommen. Und sie war danach auch noch bereit, Partei, Anstand und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gleich hinterher zu schubsen, nur um einen eigenen Fehler nicht eingestehen zu müssen.
Die Kanzler vor Merkel waren das Gegenteil von Prügelknaben. Helmut Schmidt machte sich in einer Reportage über die RAF über den späteren Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) lustig, weil der im Krisenstab von 1977 unter vier ehemaligen Oberleutnants der Wehrmacht der einzige Leutnant war. Als ein Juso Kanzler Helmut Kohl mit Eiern bewarf, riss sich der Pfälzer von seinen Leibwächtern los, weil er dem Sozen persönlich die Fresse polieren wollte. Und Willy Brandt musste an seinem Macho-Image feilen, um den Ruf des Kriegsdienstverweigerers loszuwerden.
Die Bundesrepublik wollte im Kalten Krieg starke Kanzler – und die Amtsinhaber inszenierten sich entsprechend.
Mit den 68ern sowie der Müsli- und Friedensbewegung der 80ern änderte sich das Männerbild. Diether Krebs parodierte dieses Image, indem er „Ich bin der Martin, ne“ sang und die Karikatur eines Weicheis lieferte. 1992. Ein Vierteljahrhundert vor der Kandidatur des Genossen Schulz mit dem gleichen Vornamen. Der ewige Zurückzieher wurde derart zum Ideal in Deutschland, dass sich die Machtmaschine aus der Uckermark als selbstloses Mädchen inszenierte, um trotz verheerender Bilanz drei Wiederwahlen zu gewinnen.
Das lag auch daran, dass sich die Eliten-Auswahl verändert hat. Das war ein schleichender Prozess. Doch spätestens mit dem Umzug von Bonn nach Berlin war dieser Prozess entscheidend fortgeschritten. In den alten Zeiten kamen die Bewerber noch aus dem echten Leben. Brandt und Konrad Adenauer waren – auf unterschiedliche Weise – von den Nazis verfolgt worden. Schmidt befand sich im Krieg in echter Lebensgefahr, Kohl bekam als junger Rekrut noch einen leisen Geschmack davon ab und das Nachkriegskind Schröder kam aus sozial schwierigen Verhältnissen und musste sich seinen Weg nach oben freiboxen. Sie alle hatten sich gegen interne Rivalen und Störfaktoren durchzusetzen. Die Duelle Brandt gegen Wehner, Kohl gegen Strauß oder Schröder gegen Lafontaine klingen nach Kämpfen aus einer glorreichen Zeit.
Die Karriere geht weiter als Abgeordneter, Staatssekretär oder Minister. Verbunden mit der Pflicht, immer das zu sagen und zu denken, was der Fraktionsvorsitzende, der Minister, Kanzler oder Ministerpräsident sagt und denkt. Im Idealfall ist man mit 40 Jahren Regierungschef, meist erst mit 50 Jahren oder wie Merz mit 69 Jahren. Jetzt darf und soll man sogar zum ersten Mal eigenverantwortlich reden und denken. Sich da umzustellen, schaffen viele nicht. So wie der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Armin Laschet. Der war mal – die mit einem guten Gedächtnis fürs Absurde werden sich erinnern – Kanzlerkandidat der Union. Ein echter Prügelknabe. Kein inszenierter.
Nun gibt es noch einen Player, der nicht übersehen werden darf: den Wähler. Er könnte all die Prügelknaben abwählen. Tut es ja teilweise auch. So wie eben bei Laschet oder jetzt bei Olaf Scholz. Aber eigentlich – das gehört zur Analyse dazu – will der deutsche Wähler Prügelknaben. Aus unterschiedlichen Gründen. Etwa die Jüngeren. Bis ins hohe Alter zur Unselbstständigkeit verurteilt und erst im hohen Erwachsenenalter aufgefordert, eigenständig zu handeln? Die Einzelkinder mit Helikopter-Müttern können sich in dieser Art von Politikern selbst wieder entdecken. Doch der wirkliche Spott soll nicht den Jüngeren gehören. Wer im Klimawahn und in der Corona-Politik erzogen wurde, hat es schwer genug, geistige Eigenständigkeit und einen nüchternen Blick auf die Welt zu entwickeln.
Es sind die Älteren, die in Deutschland Wahlen entscheiden. Sie halten die Dynastie der Prügelknaben im Amt. All diese Merkels, Scholzens und nun Merzerische. Sie wollen keinen Ludwig Erhard mehr, der zum Anpacken auffordert. Keinen Willy Brandt, der mehr Demokratie wagen will. Oder keinen Helmut Kohl, der bereit ist, eine ganze Weltordnung über Nacht umzustoßen.
Die älteren Wähler wissen, dass dieses Land den Bach runtergeht, wenn sich nichts ändert. Doch sie sind gleichzeitig auch so satt, dass sie nicht wollen, dass sich was ändert. Ein entschlossener Kanzler, der anpackt, würde da nur stören. Der würde nur auf die eigene Lebenslüge aufmerksam machen. Also wählen sie einen Olaf Scholz, weil der Respekt verspricht und gegen Nazis kämpfen will. Um dann als Kanzler einen politischen Konkurrenten mit schwarzer Haut als Feigenblatt zu diffamieren. Ohne dass sich die geneigten Journalisten darüber aufregen. Obwohl er einen der ihren angefaucht hat, bloß die Fresse zu halten. Doch auch im Journalismus ist eine Generation der Prügelknaben nach oben gespült, die das für angemessen hält – wobei es in dem konkreten Fall ja sogar stimmt.
Die Älteren wählen Friedrich Merz zu ihrem Kanzler. Weil er ein Ende der illegalen Einwanderung verspricht, Haushaltsdisziplin sowie mehr Netto vom Brutto. Warnungen schlagen sie in den Wind, dass dieser Merz sie belügt. Sie wählen ihn. Und noch bevor er überhaupt Kanzler wird, schafft er die Schuldenbremse ab und bringt ein Rekord-Schuldenpaket auf den Weg. Dass alles teurer werde, sagt er heute mit einer Beiläufigkeit, als ob es mehr als zwei Monate her wäre, als er täglich das Gegenteil beschwor.
Kann Friedrich Merz das stoppen? Das nicht. Aber er darf das zusehen, wie die Linken in der Regierung mit Sudanesen das gleiche machen. Helmut Kohl musste in seinen 16 Jahren Kanzlerschaft nicht so viele Ohrfeigen hinnehmen, wie Friedrich Merz in seinen 16 Tagen vor Amtsantritt.
Trotzdem hat der Deutsche Merz gewählt. Und er wird es wieder tun. Wenn nicht ihn, dann halt einen Lars Klingbeil, einen Hendrik Wüst oder – Gott bewahre – einen Andreas Audretsch. Denn der Deutsche will nichts tun, damit sich nichts ändert. Obwohl er eigentlich weiß, dass sich alles verändert, wenn er nichts tut. Doch in der Lethargie, die aus diesem Widerspruch entsteht, da kommt ihm ein Kanzler wie Friedrich Merz gerade recht: Was kann der Deutsche nun sich in aller Selbstgerechtigkeit über seinen Regierungschef aufregen. Den Prügelknaben. Obwohl oder gerade weil er im Hinterkopf eigentlich weiß, dass er genau das gewählt und gewollt hat.