
Die Frage, wohin Friedrich Merz die Republik steuert, setzt voraus, dass Friedrich Merz steuert, dass er ein Ziel, nicht für sich, sondern für das Land hat und einen Kompass besitzt, der kein Abschiedsgeschenk von BlackRock ist. Bisher gewinnt man jedenfalls den Eindruck, dass niemand Friedrich Merz erklärt hat, was und wozu ein Steuerrad da ist. So ausschließlich erfreut er sich daran, dass er von der Brücke aus unter seiner nigelnagelneuen Kapitänsmütze die gesetzten Segel, die sich im Wind blähen, bewundert, als hätte er sie selbst genäht, und mit einer fast kindlichen Freude die Richtungen kommentiert, in die das Schiff von den wechselnden Winden geschaukelt wird. Hauptsache es bewegt sich, auch wenn es nur bewegt wird – und das noch dazu im Kreis.
Angesichts der Freude, Kapitän zu sein, soll ihm niemand mit Nebensächlichkeiten wie Wahlversprechen kommen. Denn das einzige, womit Friedrich Merz noch nicht gebrochen hat, ist mit dem Brechen von Wahlversprechen. Kaum hatten die Zuständigen die Wählerstimmen ausgezählt, kaum war das amtliche Endergebnis verkündet, als Friedrich Merz seine Wähler dadurch erstaunte, dass er eigentlich schon immer die Schuldenbremse „reformieren“ wollte. Das hatte zwar vorher ganz anders geklungen, aber Nebensache, Wahlversprechen halt. Statt die Schuldenbremse einzuhalten, hat Merz mit dem Chefumverteiler der SPD, Lars Klingbeil, die Schuldenbremse praktisch verschrottet und damit das Grundgesetz verhöhnt, um dadurch eine in Deutschland nie dagewesene Verschuldung in Gang zu setzen. 500 Milliarden Euro sollen für Investitionen in die Infrastruktur ausgegeben werden. Das freut besonders Lars Klingbeil. Als Finanzminister kann er, wie man in Berlin sagt, „frei nach Schnauze“ mit Milliarden erpumpter Euros um sich werfen. Es haftet ohnehin nur der Steuerzahler, wie beispielsweise für Günthers und Habecks Northvolt-Abenteuer. In diesem Jahr will Klingbeil 110 Milliarden Euro für das, was er Infrastruktur nennen wird, ausgeben. Was er unter Infrastruktur versteht, weiß noch niemand. Vielleicht ist Klingbeil ja auch nur ein Modeleisenbahnfan und liebt besonders innig die Verschiebebahnhöfe.
Auch in der Migrationsfrage wehen die Winde aus rotgrüner Richtung. Es sieht nicht so aus, dass Merz hier liefern wird. Dass der Wahlkämpfer einmal im Entschließungsantrag der Union versprach: „Zurückweisung ausnahmslos aller Versuche illegaler Einreise: Es gilt ein faktisches Einreiseverbot für Personen, die keine gültigen Einreisedokumente besitzen und die nicht unter die europäische Freizügigkeit fallen. Diese werden konsequent an der Grenze zurückgewiesen. Dies gilt unabhängig davon, ob sie ein Schutzgesuch äußern oder nicht“, hat Friedrich Merz längst vergessen. Auch, dass er im Januar noch bekräftigt hatte: „Es wird ein faktisches Einreiseverbot geben.“ Wer keine Dokumente vorweisen könne oder in einem anderen EU-Land eingereist sei, habe kein Recht auf Einreise. „Das gilt ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch“. Nun twittert Merz fröhlich von der Brücke des schlingernden Schiffes: „Das Schutzversprechen gilt für diejenigen, die einen Schutzanspruch haben. Wir treffen Entscheidungen, die dafür sorgen, dass das Land nicht weiter überfordert wird – ohne unsere humanitären Verpflichtungen zu verletzen.“ Migrationswende? Nebensache. Wahlversprechen halt. Eine Seefahrt, die ist lustig,/eine Seefahrt, die ist schön, ja da kann man manche Leute/an der Reling spucken seh’n.“ Und weil man auf der Brücke keinen Widerspruch hören will, hat die stramm woke Günther-Vertraute aus Kiel schon einmal festgestellt, Bildung müsse künftig Volkserziehung sein und Zensur geht immer: „Machen wir uns nichts vor. Um Regulierung kommen wir nicht drumherum, wenn wir unser liberales, demokratisches System retten wollen.“ In Priens Logik, spätestens seit Georges Orwell bekannt, rettet man die Freiheit am besten, indem man sie abschafft. Erstaunlich ist die entwaffnende Ehrlichkeit von Merzens „Volksbildungsministerin“, denn offensichtlich haben wir keine Demokratie mehr, sondern stattdessen ein demokratisches System, so wie es auch mal das System der Deutschen Demokratischen Republik gab, in dem alles demokratisch war.
Merzens Koalition bewies sogar höchste Kreativität, so wie man selbst in einer Flaute durch kräftiges Wedeln mit den Armen die Illusion von Wind erzeugen kann, und man eine Schuldenbremse in einen Schuldenantrieb verwandelt. Denn Aufrüstungsausgaben sollen nicht mehr unter die Schuldenbremse fallen, wenn sie die Höhe von 1 % des Bruttoinlandsprodukts („BIP“) überschreiten. Das ist so, als wenn man zur Bank geht, und der Bank mitteilt, dass alles, was die eigene Kreditwürdigkeit in der Höhe von 1 % überschreitet, nicht mehr von der eigenen Kreditwürdigkeit erfasst wird. Das dürfte einmalig in der Weltgeschichte sein, dass nicht die Verschuldungsmöglichkeit, sondern der Verschuldungswillen den Maßstab setzt, aber nur unter der Voraussetzung, dass der Verschuldungswille die Verschuldungsmöglichkeit mehr als 1% überschreitet – nach oben offen also. Die Verschuldungsorgien der Ampel sind gemessen an Merzens Verschuldungsdelirieren eine Petitesse, oder anders ausgedrückt, die Verschuldungsorgien der Ampel hatten noch nicht BlackRock-Niveau erreicht, unter Merz gelingt es ihnen locker.
Wozu Merz das viele Geld benötigt, ist auch klar, am wenigsten dazu, die Bundeswehr aufzurüsten, sondern eher dazu, im Sinne eines erweiterten Verteidigungsbegriffes tätig zu werden, der auch den Kampf gegen die Opposition, gegen die freie Meinungsäußerung und die Finanzierung der Ukraine umfassen könnte. Wobei niemand wohl mit letzter Sicherheit sagen kann oder sagen will, in welche Taschen in Kiew deutsche Gelder stranden. Im Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes von 2021 heißt es: „Die Ukraine leidet seit vielen Jahren unter Korruption, insbesondere unter Großkorruption. Die EU hat mehrere Reformen unterstützt, um die Rechtsstaatlichkeit und die Bekämpfung von Korruption in der Ukraine zu stärken.“ Schon damals kritisierte der Europäische Rechnungshof: „Die Bekämpfung von Korruption ist zwar Thema in den einschlägigen EU-Dokumenten, ein konkreter Verweis auf Großkorruption fehlt hingegen. „Großkorruption“ ist definiert als Machtmissbrauch auf hoher Ebene, durch den sich einige wenige Personen auf Kosten der Allgemeinheit einen Vorteil verschaffen und dadurch einzelnen Personen und der Gesellschaft schweren und weitreichenden Schaden zufügen. Diese Art von Korruption rührt hauptsächlich von Oligarchen und Interessengruppen her. Großkorruption und Vereinnahmung des Staates behindern Wettbewerb und Wachstum, und schaden dem demokratischen Prozess.“ Im Februar 2025 kam Statista zu folgender Einschätzung: „Die Ukraine erreichte im Corruption Perceptions Index (CPI) 2024 einen Indexwert von 35 Punkten und belegte damit Platz 105 von 180 untersuchten Staaten… Hierbei gilt ein Wert von „0“ als sehr korrupt sowie ein Wert von „100“ als sehr integer, also weitestgehend frei von Korruption.“ Laut einem Bericht der ukrainischen Zeitung The Kyiv Independent ( https://kyivindependent.com/ukrainian-court-orders-detention-of-ex-deputy-head-of-presidential-office-during-corruption-probe/) wurde der ehemalige stellvertretenden Leiter des Präsidentenbüros von Selenskyj, Andrij Smyrnow, wegen Korruptionsverdacht am 5. Mai festgenommen. „Dies sei Teil einer laufenden Untersuchung wegen mutmaßlicher Korruption in großem Maßstab, so ein im Gerichtssaal anwesender Korrespondent von Suspilne“, schreibt die Kiewer Zeitung. Suspilne (Nazionalna Suspilna Teleradiokompanija Ukrajiny) ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Ukraine.
Das Interview, das die Ukrainerin Daria Kaleniuk, die eine Antikorruptionsorganisation in der Ukraine leitet, dem SPIEGEL gab, ist in dieser Hinsicht erschütternd. Auf die Frage des SPIEGELS: „Viele Soldaten kämpfen seit Beginn der russischen Invasion ohne Pause. Sie werden nicht abgelöst. Im Gegenteil: Immer mehr Männer entziehen sich dem Kriegsdienst. Was macht das mit der Gesellschaft?“, antwortet Kaleniuk: „Stellen Sie sich vor: Ihr Sohn wird zur Armee eingezogen. Dann finden Sie heraus, dass der gleich alte Nachbarsohn nicht einberufen wird, weil er ein Bestechungsgeld zahlen konnte.“ Sie schätzt ein: „Weil der Präsident oder das Parlament den Generalstaatsanwalt feuern können, ist seine politische Unabhängigkeit gleich null. Die Staatsanwälte haben sich in eine privilegierte Kaste verwandelt, die sich gegenseitig schützt und korrupte Politiker nicht angreift.“ Zwar wäre Selenskyjs stellvertretender Stabschef Oleh Tatarow „die Schlüsselperson, die eine Reform der Justiz in Gang bringen könnte.“ Doch „gegen Tatarow wurde schon 2020 wegen Bestechlichkeit ermittelt. Schon damals hätte er zurücktreten müssen. Jemand, der selbst unter Korruptionsverdacht steht, kann keine Justizreform verantworten.“ Selenskyj jedenfalls „hält Tatarow für einen effektiven Manager.“
Am 28. Mai wurde das Kanzleramt abgeriegelt, Straßen gesperrt und sogar die Gully-Deckel verschweißt. Hatte der liebe Gott seinen Besuch angekündigt? Nein, weit mehr, es war Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Präsident, der Friedrich Merz auf der Brücke besuchte und eine frische Brise mitbrachte. Da die Bundesregierung dank der informellen Koalition aus Linken (SED) Grünen, SPD und Union Deutschland in Rüstungsfragen so hoch verschulden kann, wie sie will und darin auch „die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten“, im Klartext für die Ukraine eingeschlossen ist, hat Friedrich Merz dem ukrainischen Präsidenten gleich mal 5 Milliarden Euro versprochen. 30 Milliarden, wurde geschätzt, benötigt das Land jährlich für den Ausbau der Rüstungswirtschaft und für die Produktion von Waffen und Munition. Vielleicht werden aus den 5 Milliarden auch noch 8 Milliarden, vielleicht auch noch mehr. Wer kann das heute schon absehen. Man kann ja ein Wahlversprechen daraus machen.
Es ist ja nicht so, dass in Deutschland nicht gerade die Krankenkassen zusammenbrechen und das Rentensystem kippt, die Wirtschaft schwächelt und deutsche Firmen, wenn sie nicht Insolvenz anmelden, ins Ausland fliehen. Für den Kapitän auf der Brücke sind das anscheinend nur Nebensächlichkeiten. Überdies ist es sehr sinnvoll, dass Deutschland in der Ukraine die Rüstungsproduktion aufbaut, damit Deutschland später einmal dort sehr teure Rüstungsgüter kaufen wird. Warum Rüstungsfabriken im eigenen Land erschaffen, wenn man sie nicht auch woanders errichten kann? Warum soll sich die Regierung nicht am Investitionsexport beteiligen?
Kein Problem übrigens, wir haben ja für den Bereich Verteidigung eine unbegrenzte Kreditlinie. Und Schulden müssen auch nie zurückgezahlt werden. Man macht im Falle eines Falles einfach neue. Im Punkt 4 seines 5-Punkte Plans sicherte Merz am 28.05. jedenfalls dem ukrainischen Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj, umfangreiche Hilfe zu, um weitreichende Waffen in der Ukraine zu bauen: „Die Ukraine kann sich damit vollumfänglich verteidigen, auch gegen militärische Ziele außerhalb des eigenen Staatsgebiets“, so Merz. Dies sei der Beginn einer neuen Form der militärisch-industriellen Zusammenarbeit. Dass Merz damit Deutschland an den Rand eines Kriegseintritts schippert, birgt das Risiko, dass er Deutschlands letzter Kanzler wird. Nebensächlichkeiten, wenn man die Chance hat, in die Geschichte einzugehen.
Friedrich Merz mag sich in der Pose des Kapitäns wohlfühlen, doch Kenntnisse, Umsicht, Behutsamkeit und Erfahrungen im Navigieren eines großen Schiffes wären wichtiger als große Posen. Sich an gegebene Versprechen zu erinnern, Verlässlichkeit gehört zu den Tugenden eines Kapitäns. Die Mütze allein macht es nicht. Und ein Schlingerkurs ist längst kein Kurs.