
Die Abende im Winter 2024 wirkten wie verfrühte Silvesterfeierlichkeiten: Menschenmassen, Feuerwerk und Musik. Doch in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, wurde und wird immer noch nicht gefeiert – die Menschen kämpfen. Besonders gegen Ende des vergangenen Jahres protestierten die Bürger wochenlang gegen die Regierung. Ihr Zorn richtete sich vor allem gegen die Verschiebung der EU-Beitrittsverhandlungen auf das Jahr 2028. Später der Abend, desto mehr eskalierten die Demonstrationen, und das tagein, tagaus aufs neue. Die Proteste wurden überschattet von massiven Zusammenstößen zwischen Bürgern und Sicherheitskräften. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verurteilte damals die „unverhältnismäßige und wahllose Gewaltanwendung der Polizei“ als eine „schwere Verletzung der Versammlungsfreiheit“.
Die Ereignisse in Georgien waren der Gipfel einer langen Entwicklung, die das Land wortwörtlich zerrissen hat – die Geschichte eines Landes, das nach Westen, gen Freiheit strebt und in diesem Streben doch nicht frei ist.
Der Georgien-Krieg und der Konflikt, der ihn auslöste – beides war, sagen viele, eine Blaupause für den Ukraine-Konflikt. James Brooke, ehemaliger Journalist in Russland und Fellow bei der amerikanischen Foundation for Defense of Democracy, verglich bereits Tage vor der Invasion 2022 die russischen Maßnahmen mit denen in Georgien 2008. Er war nicht der erste und einzige, der diese Parallelen erkannte. Ein halbes Jahr vor dem Kriegsausbruch warnte Russlands Außenminister Sergej Lawrow:„Ich hoffe, dass das Kiewer Regime nicht dem Pfad Mikhail Saakaschwilis vom August 2008 folgt.“ Mikhail Saakaschwili – eine tragische Figur, die uns später begegnen wird.
Andersherum wurden die Ereignisse in Georgien nun immer wieder mit dem ukrainischen Euromaidan verglichen, als pro-europäische Demonstranten dort 2014 die Regierung von Wiktor Janukowytsch zu Fall brachten. Dieser hatte zuvor ein EU-Assoziierungsabkommen gestoppt und sich stattdessen mehr Richtung Moskau angenähert.
Auch in Georgien geht der Unmut der Proteste inzwischen weit über die EU-Frage hinaus. Denn bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober 2024 kam es zu erheblichen Unregelmäßigkeiten. Die regierende Partei „Georgischer Traum“ erhielt laut offiziellen Zahlen 53,9 Prozent der Stimmen, während das pro-westliche Oppositionsbündnis knapp 37,7 Prozent erreichte. Opposition und Präsidentin Salome Surabischwili, inzwischen eine scharfe Kritikerin der Regierung, erklärten die Ergebnisse für manipuliert. Sie kündigte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP an, im Amt zu bleiben, bis die umstrittenen Wahlen wiederholt werden. „So lange es keine neuen Wahlen gibt und ein Parlament, das einen neuen Präsidenten nach neuen Regeln wählt, wird mein Mandat andauern“, betonte sie.
Die Proteste haben jedoch tiefere Wurzeln, die bis in die jüngere Geschichte Georgiens zurückreichen. Vor mehr als zwei Jahren, mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, wurden alte Wunden wieder aufgerissen. Auch Georgien ist ein Opfer russischer Expansionspolitik. Im Jahr 2008 marschierten russische Truppen in das kleine Land im Kaukasus ein. Der kurze, aber intensive Krieg dauerte vom 7. bis zum 12. August und drehte sich um die Kontrolle der abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien.
Die Spannungen zwischen Georgien und diesen Regionen gehen bis in die frühen 1990er Jahre zurück, als der Zerfall der Sowjetunion ethnische Konflikte und separatistische Bestrebungen auslöste. Südossetien und Abchasien, die sich Russland kulturell und politisch näher fühlten, strebten nach Unabhängigkeit, was blutige Bürgerkriege zur Folge hatte. Russland positionierte sich als Schutzmacht, besetzte die beiden Regionen und verlieh zahlreichen Bewohnern die russische Staatsbürgerschaft – eine Grundlage für spätere militärische Eingriffe.
Georgiens damaliger Präsident Micheil Saakaschwili, der 2004 an die Macht kam, verfolgte eine prowestliche Politik, strebte eine NATO-Mitgliedschaft an und versprach, die territoriale Integrität Georgiens wiederherzustellen. Diese Bestrebungen stießen in Moskau auf scharfen Widerstand. Saakaschwilis kompromissloser Kurs, verbunden mit der Weigerung, die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anzuerkennen, provozierte nicht nur die Separatisten, sondern auch Russland. „Wir müssen die Einheit Georgiens bewahren“, betonte Saakaschwili immer wieder, während er die NATO-Mitgliedschaft vorantrieb.
Am 7. August 2008 startete Georgien eine Militäroffensive, um die Kontrolle über Südossetien zurückzugewinnen, insbesondere auf die Provinzhauptstadt Zchinwali. Russland reagierte mit einer massiven Militäroperation unter dem Vorwand, seine Bürger und Truppen zu schützen. Dieses Vorgehen und diese Rechtfertigung sollten 14 Jahre später drehbuchartig wiederholt werden. Russische Journalisten waren beispielsweise schnell dabei, von „Genozid“ zu sprechen. Präsident Dimitrij Medwedew sprach von „tausenden Opfern“ dieses „Genozids“ – russische Behörden selbst sprachen nach Jahren des Schweigens später selbst nur von 162 toten Zivilisten in Südossetien.
Russland hatte offenbar nur auf einen solchen Anlass gewartet: Bereits in der Nacht des 7. August wurden die russischen Truppen mobilisiert. Am Morgen des 8. August rollten Panzer mit der russischen Flagge über die Bergstraßen des Kaukasus, während Kampfflugzeuge georgische Stellungen bombardierten. Innerhalb weniger Tage waren die russischen Streitkräfte nicht nur in Südossetien, sondern auch im georgischen Kernland präsent. Sie rückten tief in georgisches Territorium vor und eroberten strategisch wichtige Gebiete wie die Stadt Gori. Gleichzeitig blockierten sie die zentrale Ost-West-Verbindungsstraße und teilten Georgien faktisch in zwei Hälften. Die georgische Hoffnung auf eine schnelle Rückeroberung wurde zerschlagen.
Zeitgleich eröffnete Russland eine zweite Front in Abchasien. Russische Einheiten, unterstützt von abchasischen Milizen, drängten georgische Truppen zurück und sicherten die Kontrolle über die Region. Die russische Schwarzmeerflotte übernahm den strategisch wichtigen Hafen von Suchumi.
Für die Zivilbevölkerung war der Krieg eine Katastrophe. Tausende flohen aus ihren Häusern, Kinder auf den Armen und das Nötigste in Taschen gepackt. „Wir hatten nichts mehr, nur das, was wir tragen konnten“, erinnerte sich eine ältere Frau aus einem Dorf bei Gori. Die hastig eingerichteten Flüchtlingslager entlang der Hauptstraßen waren überfüllt und schlecht versorgt. Berichte über Plünderungen und Gewalt gegen Zivilisten häuften sich, besonders in den umkämpften Gebieten.
Am 12. August 2008 vermittelte der französische Präsident Nicolas Sarkozy schließlich eine Waffenruhe. Medwedew erklärte die Operationen für beendet – doch der Krieg hatte in nur fünf Tagen die Landkarte verändert. Russland blieb in Südossetien und Abchasien präsent, die beiden Regionen wurden von Moskau als unabhängige Staaten anerkannt. Georgien verlor nicht nur die Kontrolle über die Gebiete, sondern auch das Vertrauen in eine schnelle Annäherung an den Westen, auf die bis heute gewartet wird.
Die Nachkriegsordnung bleibt bis heute fragil. Internationale Vermittlungsbemühungen, wie die Genfer Gespräche, haben bislang keine greifbaren Fortschritte gebracht. Georgien sieht Südossetien und Abchasien weiterhin als integralen Bestandteil seines Staatsgebiets, doch die Hoffnung auf eine baldige Lösung bleibt vage.