
Ein Auge ist komplett zugeschwollen und blutunterlaufen. Das Gesicht wurde buchstäblich grün und blau geschlagen. Ein großes Hämatom wuchert auf der Stirn, eine kleine Risswunde läuft senkrecht über die Wange.
Natália B. ist spürbar gezeichnet, an Körper und Seele, als TE mit ihr spricht. Aber die 37-jährige studierte Sozialarbeiterin will sich nicht verstecken. Sie will sich wehren. Dazu gehört für sie, dass sie ihre Geschichte erzählt.
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TE: Wie ist es zu Ihren Verletzungen gekommen?
Natália B.: In meiner Mittagspause war ich kurz im Zentrum von Sigmaringen unterwegs, um mir ein Brot zu holen. Da habe ich gesehen, wie ein junger Mann irgendetwas gegessen hat und seine Essensverpackungen auf den Bürgersteig warf, obwohl keine drei Meter von ihm entfernt eine Mülltonne stand.
Bei uns in der Slowakei erzieht man die jungen Leute. Dazu gehört, dass man ihnen sagt, was nicht geht. Also habe ich ihn angesprochen – bestimmt drei- oder viermal. Jedes Mal hat er vorgetäuscht, dass er mich nicht versteht, und hat gesagt: „Sprich kein Deutsch.“ Ich bin zu ihm hingegangen, habe ihn an der Hand berührt und auf den Mülleimer gezeigt.
Da ist er komplett ausgerastet. Ich bekam Faustschläge ins Gesicht und Tritte in den Schritt und gegen die Rippen. Er hat mich auf die Motorhaube eines geparkten Autos geschubst und dort weiter mit voller Wucht auf mich eingeschlagen, vor allem immer wieder auf meinen Kopf.
Hat Ihnen niemand geholfen?
Passanten sind dann dazwischen gegangen. Irgendwer hat mit dem Handy die Polizei gerufen. Als der Täter merkte, dass schon einige Zeugen da sind, hat er von mir abgelassen und wollte weg. Er müsse jetzt zur Schule, hat er gesagt – da konnte er plötzlich Deutsch. Ich habe mich dann mit ausgebreiteten Armen vor ihn gestellt und ihm gesagt, dass wir jetzt auf die Polizei warten. Wohl wegen der Zeugen hat er mich nicht mehr angegriffen, dafür hat er mich dann übel beleidigt und bedroht: „Ich schlage dich, bis du behindert bist“, hat er gesagt. Und er hat mich fotografiert.
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Vor fünf Jahren ist Natália B. mit ihrer Familie aus der Slowakei nach Deutschland gekommen. Ihr Mann hat sein Studium an der Universität Wien erfolgreich abgeschlossen und spricht perfekt Deutsch. Er arbeitet in Bayern Vertriebsleiter und Geschäftsführer bei der Niederlassung eines weltweit tätigen Unternehmens und zahlt hier den Spitzensteuersatz.
Die 37-Jährige hat selbst Sozialarbeit studiert und in ihrer Heimat mit dem Magister erfolgreich beendet. Damit ihr Abschluss bei uns anerkannt wird, macht die Mutter von drei kleinen Kindern derzeit ein Praktikum bei der Caritas. Vorher hat sie schon ein Praktikum bei der LEA Sigmaringen absolviert, der Landeserstaufnahmestelle für Migranten. Sie hat also Erfahrung in der Arbeit und im Umgang mit Flüchtlingen.
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Der Anlass für die Tat wirkt ja denkbar unwichtig. Wie erklären Sie sich die Reaktion des Mannes?
Er war sichtlich sehr irritiert, dass sich eine Frau erlaubt hat, ihn zurechtzuweisen. Daraus wurde dann sehr schnell so eine Art rasender Hass.
Was wissen Sie über den Täter?
Die Polizei kam und nahm die Personalien auf. Er ist wohl ein 17-jähriger Schüler, der vor vier Jahren als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus dem Nahen Osten nach Deutschland kam. Während die Polizei ihn befragte, hat er die ganze Zeit gelacht und immer wieder gesagt, dass er ja minderjährig ist. Ich hatte den Eindruck, dass er sich trotz seiner Tat absolut sicher fühlte.
Wie schwer wurden Sie verletzt?
Als die Polizei wieder weg war, wurde ich ins Krankenhaus gebracht. Ich habe eine leichte Gehirnerschütterung und bin einige Zeit arbeitsunfähig. Ein paar Tage lang hatte ich Kopfschmerzen und war sehr müde und schläfrig. Zwischendurch hatte ich kurze visuelle Aussetzer und kleine Gedächtnisstörungen. Mein Hausarzt hat gesagt, dass ich großes Glück gehabt habe.
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Glück im Unglück, sozusagen. Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Die Tat selbst hat Natália B. und ihren Mann verständlicherweise wütend auf den Täter gemacht. Doch was danach passierte, macht die Eheleute wütend auf Deutschland – auf das Land, in dem sie gesetzestreu leben, hart arbeiten, ziemlich viele Steuern zahlen und gute Bürger sein wollen.
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Sie waren bei der Polizei. Was ist dort passiert?
Ein Beamter erzählte mir, dass mein Angreifer einen Kratzer an der Hand habe. Daraus zog er den Schluss: „Na ja, das war doch schon gegenseitig.“ Das hat er mir ernsthaft gesagt. Ich werde verprügelt und versuche, mich zu schützen – und die Polizei stellt es so dar, als hätte ich sozusagen mit meiner Hand die Faust des Täters attackiert.
Haben Sie Anzeige erstattet?
Ja. Auch wegen der Drohungen und der Beleidigungen waren wir bei der Polizei. Der Beamte dort hat nur gefragt, was der Angreifer gesagt, und hat das in sein Notizbuch geschrieben. Es wurde kein Protokoll angefertigt, jedenfalls habe ich keine Kopie bekommen. Dann meinte der Beamte gutgelaunt, dass mein Angreifer das sicher nicht ernst gemeint hat und schon nichts machen wird. So entspannt wie er sehe ich das nicht. Wir leben in einer Kleinstadt, und ich habe drei Kinder.
Der Schläger hat Sie ja auch fotografiert. Was unternehmen Sie deswegen?
Auch da antwortete die Polizei nur ausweichend: Na ja, mit den Fotos sei das eine schwierige Sache. Offenbar will man unbedingt die Privatsphäre des Angreifers schützen und nicht sein Handy beschlagnahmen. Ich habe auch gehört, dass die Polizei die Schule nicht informieren darf. Da wissen also weder Lehrer noch Mitschüler, dass ein gewalttätiger Junge im Klassenraum sitzt.
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Die Polizei bestätigt übrigens, dass sie ermittelt – gegen den Angreifer und gegen das Opfer, jeweils wegen Körperverletzung.
Natália B. wartet seit fast drei Jahren in einer unendlichen Bürokratieschleife darauf, dass ihr Studium endlich anerkannt wird und sie hier in ihrem erlernten Beruf arbeiten darf. „Für jede Kleinigkeit wird der, der sich an den Regeln hält und was zu verlieren hat, hier konsequent verfolgt“, sagt sie – aber die, die sich asozial und gefährlich verhalten und nicht kooperativ sind, die lasse der Staat in Ruhe.
Sie und ihr Mann wollen diesen Zirkus nicht mehr mitmachen. Die Familie wird Deutschland demnächst wieder verlassen.
(Auf Wunsch der Familie hat TE die Namen geändert.)