Gibt es jetzt Zurückweisungen oder nicht? Die große NIUS-Chronik zum Asyl-Stopp

vor etwa 3 Stunden

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Bildquelle: NiUS

Der erste Tag von Friedrich Merz als Bundeskanzler, alle Augen richten auf die konkrete Umsetzung seines wichtigsten Wahl-Versprechens – die Migrationswende. Doch noch bevor die Sonne im politischen Berlin untergegangen ist, weiß niemand mehr so recht, was nun eigentlich passiert, welches Nachbarland auf wen sauer ist und warum binnen weniger Stunden aus dem „Asyl-Stopp“ eine Meisterschaft im Zurückrudern geworden ist.

NIUS dokumentiert das Migrations-Wirrwarr:

Die Migrationswende beginnt, jedenfalls in der Kommunikation. Denn die Bild-Zeitung berichtet, mutmaßlich mit durchgestochenen Informationen aus dem Bundesinnenministerium, dass Neu-Innenminister Alexander Dobrindt das angeordnet hat, was im Wahlkampf versprochen worden ist. „Dobrindt ordnet an: Asyl-Stopp an allen Grenzen – SOFORT!“ lautet die Schlagzeile. Weiter heißt es: Seit Mittwochmittag würden „an den deutschen Landesgrenzen ALLE illegalen Migranten zurückgewiesen werden – auch, wenn sie Asyl erbeten!“.

So berichtete „Bild“ über den Dobrindt-Auftrag, mehr Zurückweisungen vorzunehmen.

In der Union bricht Jubel aus: „Merz hält sein Versprechen“, ist da zu lesen. Die Grünen sprechen in Person von Innenpolitiker Konstantin von Notz von „rechtlich maximal fragwürdigen, antieuropäischem Grenz-Befehlen“. Bei der AfD will man dem Braten nicht so recht trauen – die SPD: auffallend ruhig.

NIUS-Reporter Marc Sierzputowski ist seit Dienstag an der deutsch-polnischen Grenze unterwegs, berichtet davon, dass am Mittwochnachmittag plötzlich Grenzübergänge von Bundespolizisten kontrolliert werden, die am Tag zuvor noch verwaist waren. Die Beamten haben die Zahl der Kontrollposten stark ausgeweitet. Es bleibt bei stichprobenartigen Kontrollen auffälliger Fahrzeuge, jedoch mit deutlich höherer Schlagzahl. Es ist, so scheint es, tatsächlich eine Anweisung aus dem Innenministerium eingegangen. Eine bahnbrechende Veränderung kann unser Reporter jedoch nicht feststellen.

NIUS-Reporter Marc Sierzputowski ist vor Ort an der Grenze und war zugeschaltet bei NIUS Live:

Das Bundesinnenministerium kündigt an, dass Minister Dobrindt um 16:45 Uhr ein Statement abgeben wird. Im politischen Berlin wird erwartet, dass es sich um das neue Vorgehen an der Grenze handeln muss.

Ein Dokument macht die Runde. Es ist der Beschluss von Innenminister Dobrindt an den Bundespolizeipräsidenten, welcher faktisch die Grenzpolitik von Angela Merkel beendet. Eine seit zehn Jahren geltende Weisung, die nie verschriftlicht wurde, wird aufgehoben.

Das Schreiben, das Merkels Grenzpolitik beendet

Wörtlich schreibt Dobrindt: „Hiermit nehme ich die mündliche Weisung vom 13. September 2015 gegenüber dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums zurück. Die Anwendung der Regelung des §18, Abs. 2 Nr. 1 AsylG führt dazu, dass Schutzsuchenden bei der Einreise aus einem sicheren Mitgliedsstaat die Einreise verweigert werden kann.“

An zentraler Stelle weicht Dobrindt also mit dem Wort „kann“ seinen Beschluss auf. Tatsächlich wird im Asylgesetz keine Möglichkeit in den Raum gestellt, sondern die Abweisung von Personen aus EU-Nachbarstaaten sogar zwingend gefordert. Wörtlich heißt es im Gesetz: „Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist.“

Dobrindt schreibt in seinem Beschluss weiter: „Erkennbar vulnerable Personen können weiterhin an die zuständigen Stellen oder Erstaufnahmeeinrichtungen weitergeleitet werden; sofern die Möglichkeit besteht, unter Wahrung der Fiktion der Nichteinreise.“ Somit werden sogenannte „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ oder Personen, die sich als solche ausgeben, weiterhin nicht abgewiesen. Auch schwangere Frauen fallen unter diese Regelung.

Obwohl es der erste Tag, der erste wichtige Auftritt von Innenminister Alexander Dobrindt ist, fehlt von ihm zum Start des angekündigten Statements jede Spur: Um 16:45 Uhr warten Dutzende Journalisten im Innenministerium auf den neuen Minister – vergeblich. Der öffentlich-rechtliche Sender Phoenix hatte zunächst einen Livestream für das Dobrindt-Statement eingerichtet, aber löscht diesen wieder. Alle warten auf Informationen, was nun konkret an der Grenze geschieht.

Nach seinem Antrittsbesuch in Frankreich und einem Treffen mit Präsident Emmanuel Macron im Elysée-Palast geht es für Bundeskanzler Friedrich Merz weiter nach Polen. Gegen 17:15 Uhr setzt der Regierungsflieger am Chopin-Flughafen in Warschau auf. Um 18:30 Uhr soll eine gemeinsame Pressekonferenz mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk folgen.

Mit mehr als einer Stunde Verspätung tritt Bundesinnenminister Dobrindt vor die Kameras, zusammen mit Dieter Romann, dem Präsidenten der Bundespolizei. Dobrindt schlägt dabei viel sachtere Töne an, als der Bericht der Bild-Zeitung vermuten ließ. Von Zurückweisungen aller, auch wenn sie Asyl suchten, ist plötzlich keine Rede mehr.

Innenminister Alexander Dobrindt (rechts) und Bundespolizei-Präsident Dieter Romann

Wörtlich sagt Dobrindt: „Wir werden das nicht tun in Form einer Überforderung unserer Nachbarn. Wir werden auch keine Grenzschließungen vornehmen, sondern es geht darum, dass wir die Grenzen stärker kontrollieren werden und durch diese stärkere Kontrolle der Grenzen auch zu einer höheren Zahl an Zurückweisungen kommen werden.“ Man werde „Stück für Stück“ die Kontrollen verstärken und so „Stück für Stück“ ganz zwangsläufig für mehr Zurückweisungen sorgen.

Während sich Merz und Tusk zu einem Gespräch unter vier Augen zurückziehen und Dobrindt ein erstes Zurückrudern andeutet, nimmt die Schweiz weiten Abstand von ihrer viel zitierten Neutralität, kritisiert das neue Vorgehen der Bundesregierung an der Außengrenze scharf. „Systematische Zurückweisungen an der Grenze verstoßen aus Sicht der Schweiz gegen geltendes Recht“, heißt es aus dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement bei X. Man erwarte, dass der grenzüberschreitende Personen- und Warenverkehr von den hochgefahrenen Kontrollen der Bundespolizei nicht beeinträchtigt werden.

Polens Ministerpräsident Donald Tusk lobt zwar das neue Aufflammen der deutsch-polnischen Freundschaft, übt jedoch deutliche Kritik an der deutschen Migrationspolitik. Jeder Staat hätte zwar das Recht, seine Grenze zu schützen, so Tusk. „Ich will es nicht leugnen, dass es den Eindruck gibt, dass Deutschland jetzt Migrantengruppen nach Polen schickt – das werden wir nicht akzeptieren“, sagt Tusk wörtlich. Er wolle die positive Atmosphäre nicht stören, „wir sind hier aber nicht zusammen, um vorzuspielen, dass alles gut ist“, so Tusk weiter. Er pocht darauf, dass Polen beim Schutz der östlichen polnischen Außengrenze auch und vor allem Unterstützung aus Deutschland bekomme. Weiter sagt Tusk: „Ich verstehe das Bedürfnis verstärkter Kontrollen an den Grenzen, aber diese verstärkte Kontrolle soll sich vor allem auf die äußere Grenze Europas konzentrieren.“

Merz zum Antrittsbesuch beim polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk

Merz nimmt die Kritik hin, stimmt in den Tusk-Chor ein: „Wir wollen gemeinsam die europäische Einwanderungs- und Asyl-Politik fortentwickeln. Deutschland wird hier mit anderen zusammen darauf drängen, dass wir – wo auch immer möglich – gemeinsame europäische Regeln entwickeln. Und wir werden auch Grenzkontrollen vornehmen in einer Art und Weise, die für unsere Nachbarn erträglich ist.“ Es sei mit Polen abgestimmt gewesen, dass entsprechende Grenzkontrollen vorgenommen werden, so Merz.

Bild berichtet, dass es bereits zuvor ein Telefonat zwischen Merz und Tusk gegeben habe, in dem sich dieser besorgt über die angekündigten Grenzkontrollen gezeigt habe. Merz habe dem Bericht zufolge Entwarnung gegeben, er soll gesagt haben, dass sich am jetzigen Status nichts ändern werde.

Derweil erklärt Merz vor der versammelten Presse, dass er noch während der Reise nach Polen Kontakt mit Innenminister Dobrindt aufgenommen habe. Merz habe ihn gebeten, „Kontakt mit den europäischen Nachbarn jederzeit zu suchen“. Denn: „Es ist kein nationales Problem der Bundesrepublik Deutschland, es ist ein gemeinsames europäisches Problem, das wir hier lösen wollen“. Ein bemerkenswerter Satz, nachdem im Koalitionsvertrag von Union und SPD steht, dass Zurückweisungen sowieso nur „in Absprache mit den europäischen Nachbarn“ stattfinden sollten und sowohl Merz als auch Dobrindt betont hatten, längst Gespräche – auch mit den Polen – geführt zu haben.

Den ersten Journalisten fällt auf: Das ist ein mehr als holpriger Start in die versprochene Migrationswende.

„WOW - Merz holt sich in Polen gleich mal ordentlich Kritik ein für die neue Asylpolitik“, twittert Stern-Journalist Veit Medick, schreibt weiter: „War Dobrindts heutiges Asylmanöver mit den Nachbarn abgestimmt, wie es im Koalitionsvertrag heißt? Klingt in Warschau nicht so.“

Der Spiegel titelt: „Donald Tusk sagt Friedrich Merz, was er von Grenzkontrollen hält: nichts.“ Und schreibt weiter: „An Tag eins seiner Kanzlerschaft stößt Merz bereits an die Grenzen des Machbaren.“ Bild schreibt – deutlich weniger euphorisch als noch am Mittag: „Der erste Arbeitstag von Neu-Bundeskanzler Friedrich Merz endete mit einer kalten Dusche! In Warschau musste sich Merz heftige Kritik von Polens wahlkämpfendem Premier Donald Tusk anhören.“

So berichtete der Spiegel am Abend.

Von der anfängllichen Euphorie des frühen Nachmittags ist innerhalb der Union plötzlich nichts mehr zu spüren. Es wird auf diplomatische Gepflogenheiten, Übersetzungsfehler oder angebliche Falschmeldungen verwiesen, um sich gegen den Eindruck wehren, dass hier bereits am ersten Tag ordentlich zurückgerudert wird.

Kanzler Merz und sein Innenminister Dobrindt senden an diesem ersten Tag der neuen Bundesregierung unterschiedliche Botschaften. Er habe seinen „neuen Innenminister Alexander Dobrindt angerufen und ihn gebeten, den Austausch mit den europäischen Nachbarn zu suchen“, sagt Merz vor der versammelten Presse bei seinem Antrittsbesuch in Warschau. Es habe kein Telefonat im Laufe des Tages gegeben, heißt es dagegen aus dem Umfeld Dobrindts gegenüber NIUS. Der Minister habe erst nach 22 Uhr mit Merz telefoniert und den Tag Revue passieren lassen.

Interessant: Man wolle Merz’ Darstellung aber auch nicht dementieren, heißt es im BMI. Es könne natürlich sein, dass der Kanzler so etwas gesagt habe. Mit anderen Worten: Es sei nicht ausgeschlossen, dass Merz hier einen bestimmten Anschein erwecken wollte, um im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Polen seinem Gegenüber Donald Tusk entgegenzukommen. Auch habe Dobrindt nie geplant, vor den Wahlen in Polen, markige Bilder an der polnischen Grenze zu produzieren.

Kanzler Merz zusammen mit seinem Innenminister Dobrindt

Dobrindts Strategen machen aber auch keinen Hehl daraus, dass die Union in der Migrationsfrage in Stil und Tonlage nicht so auftreten könne wie vor der Wahl. „Wir wissen, dass wir bei der Begrenzung der Migration eine inhaltliche Mehrheit der Menschen hinter uns haben“, heißt es. „Aber wir dürfen im Stil jetzt nicht überziehen und müssen unnötig heftige Gegenreaktionen vermeiden.“

Am Morgen nach dem ersten Regierungstag mit einer inhaltlichen Migrations-Achterbahn ist der neue Außenminister Johann Wadephul (CDU) zu Gast beim Deutschlandfunk. Er hatte Kanzler Merz bei seinen Antrittsbesuchen in Frankreich und Polen begleitet – und setzte ebenfalls mit dem Zurückrudern ein.

Mit derselben Krawattenfarbe: Außenminister Johann Wadephul und Kanzler Friedrich Merz.

Auf die Frage, ob es Zurückweisungen an der Grenze auch gegen den Willen der Polen durchführen werden, sagt Wadephul: „Nein, das werden wir natürlich miteinander besprechen, das ist doch vollkommen klar. Die Kernaussage, die Donald Tusk getätigt hat, ist auch unsere Kernaussage: Dass wir eben die EU-Außengrenzen wieder wirklich zu Grenzen machen und dass wir zu einer Kontrolle der Migration nach Europa kommen. Das ist übrigens ein ganz breiter europäischer Konsens.“ Jegliche Formen der Zurückweisungen würden „Schritt für Schritt“ eingeführt, meint Wadephul und greift damit Dobrindts Wortwahl auf. Und weiter: „Und Schritte macht man bewusst und auch bedacht und natürlich auch immer in Abstimmung mit europäischen Freunden und Kollegen.“

Auch bei Bild ist der Ton inzwischen deutlich entschärft: Statt „Asyl-Stopp an allen Grenzen“ wird nun davon berichtet, dass die Bundespolizei prüfe, eine „Kräfteintensivierung“ an der Grenze vorzunehmen. Auf Weisung des Bundesinnenministeriums soll an deutschen Grenzen Asylsuchenden „unter Umständen“, so der Bericht, die Einreise verweigert und die Zurückschiebung in ein „sicheres Drittland“ verfügt werden.

Bild berichtet, dass Asylbewerber nur noch „unter Umständen“ zurückgewiesen werden sollen.

Nach Bild-Informationen soll es dazu noch am Donnerstag zur Beruhigung der Nachbarstaaten ein Gespräch im Dobrindt-Ministerium geben. Die Botschafter aller Nachbarländer sollen dort mit den Staatssekretären des Bundesinnenministeriums sprechen.

Doch der Eindruck bleibt: Keine 24 Stunden nach der großen Eilmeldung über den Asyl-Stopp ist wenig übriggeblieben. Die Kontrollen durch die Bundespolizei an den Grenzen sind zwar intensiviert worden, von einer Zurückweisung „aller“ kann aber keine Rede sein – spätestens seitdem Nachbarstaaten wie Polen und die Schweiz deutliche Kritik an den deutschen Ankündigungen geübt haben. Die kommenden Tage und das faktische Handeln der Bundespolizei an den Grenzen werden zeigen, inwieweit Kanzler Merz und sein Innenminister Dobrindt ihren Ankündigungen gerecht werden.

Fest steht aber schon jetzt: Der erste Tag der versprochenen Migrationswende war ein Chaos-Tag, nach dem keiner mehr weiß, was nun gilt und was nicht.

Mehr NIUS: Wie die Union die Zusammenarbeit mit der Linkspartei vorbereitet – sie steht sogar schon im Koalitionsvertrag

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