
Diese Umfrage ist ein historischer Einschnitt. Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte wird die Union eingeholt von einer Partei, die ihr von rechts Konkurrenz macht. War die Niederlage der Bundestagswahl 2021 auf dem ebenfalls historischen Tiefststand von gut 24 Prozent schon ein Warn- und Wegzeichen, so ist der Gleichstand von AfD und Union eine regelrechte Wegscheide: Es ist der Tag, an dem das eherne Diktum von Franz Josef Strauß (CSU) durchbrochen wird, wonach es rechts neben der Union keine demokratisch legitimierte Kraft geben dürfe.
Machen wir uns nichts vor: Es gibt sie.
In der Union wird man nun gewiss darauf verweisen, dass Umfragen keine Wahlen sind. Doch wenn CDU und CSU nicht von allen guten Geistern verlassen sind, werden sie die Zeichen zu deuten wissen. Zumindest intern sollte man sich mit „brutalst möglicher“ (Roland Koch) Schonungslosigkeit klarmachen, dass es – wie übrigens schon bei der Wahlniederlage von 2021 – die eigene Schwäche ist, die die Union nach unten zieht und nicht die Stärke der anderen. Es ist nie zu spät, aus Warnschüssen zu lernen, Schlüsse zu ziehen, umzukehren. Allein, es ist gerade die Union, die seit dem Migrationsherbst 2015 geradezu bewiesen hat, dass sie verlässlich die falschen Schlüsse zieht.
Die Union von Angela Merkel hat nicht nur das Migrationsthema und mit ihm die AfD groß werden lassen, sie hat auch in der Folge immer wieder den berechtigten und von gutem Gespür für die Stimmung im Land getriebenen Unmut der Parteibasis mit der Forderung nach „Geschlossenheit“ vom Tisch zu wischen und kleinzuhalten versucht.
Angela Merkel hat Deutschland in die Migrationskrise geführt, Friedrich Merz schafft die versprochene radikale Wende nicht. (Fotomontage)
Dass nun ausgerechnet der lange vom Establishment verhinderte Hoffnungsträger Friedrich Merz durch seinen sprunghaften Kurs, durch ans Unseriöse und Willkürliche grenzende Täuschung der Wähler und verblüffend stümperhafte Verhandlungsführung in den Koalitionsgesprächen allenfalls ramponiert und angeschlagen ins Kanzleramt einziehen könnte, stiftet ebenfalls wenig Hoffnung.
Man mache sich nichts vor: Die Schwäche der Union hat weder damit zu tun, dass die AfD auf TikTok stärker vertreten ist, noch mit Tech-Milliardären, Putin oder Trump. Was hier an sein Ende kommt, ist ein Politikstil, der über die Köpfe der Leute hinweg zu regieren versucht. Bis zur Wahl erzählen wir, was die Menschen draußen gern hören wollen, wettern gegen „linke Spinner“ und machen nach der Wahl mit genau diesen „linken Spinnern“ mit parlamentarischen Tricks gemeinsame Sache, beschaffen uns Geld auf Pump und räumen eben nicht auf mit weltfremder Sozial-, Gesellschafts- und Migrationspolitik, sondern geben dem Wähler die Schuld am vermeintlichen Missverständnis: War doch klar, dass wir die Wahlversprechen nicht einlösen können. Oder wie es Friedrich Merz ausdrückte: Am Montag nach der Wahl sind die Stimmen für die AfD „nichts, aber auch gar nichts mehr wert“.
Bereits in den Sondierungsgesprächen hat Merz die wichtigsten Punkte der CDU Wähler an die SPD verschenkt.
Was diese Stimmen wert sind, wird die Union lernen, wenn sie sie nicht bekommt. Zum Beispiel bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern. Ganz abgesehen davon, dass es nie eine gute Idee ist, Wählern zu sagen, dass ihre Stimme nichts wert sei.
Eine historische Zäsur wie der Umfragen-Gleichstand von Union und AfD ist nach aller Erfahrung der verlässliche Einstieg in die Phase eines politischen Abstiegs mit gelegentlichen hoffnungsvollen Comebacks und Zwischenphasen der Stabilisierung auf niedrigerem Niveau. Die psychologische Botschaft aber bleibt in Kommentaren und bei den Wählern erhalten: Die Union ist angezählt. Und: Die guten alten Zeiten kommen auch in der Politik selten zurück und noch seltener dauerhaft.
Wer dennoch etwa Positives darin sehen will, mag diese Zäsur als einen Warnschuss deuten, aus dem die Union heilsame Schlüsse ziehen kann. Möglich ist alles. Alles Mögliche hilft allerdings in solchen Situationen nicht weiter, sondern nur das klare Signal an die noch nicht gänzlich verlorene Wählerschaft: Wir haben verstanden. Die Union habe noch einen Schuss frei, hieß es schon vor der Wahl in Parteikreisen. Da ist was dran. Geschichte ist gnadenlos.
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