
„Ich habe keine internen Informationen darüber, wie das Reich Gottes errichtet wird.“ (Morris L. West, „In den Schuhen des Fischers“, 1963)
Missionare sind selten angenehm. Das gilt für Gläubige wie für Ungläubige gleichermaßen. Menschen möchten an all das glauben und auch an all das nicht glauben dürfen, was ihnen gefällt – ohne permanente Bekehrungsversuche.
Fairerweise muss man sagen, dass viele Atheisten heute penetranter missionieren als die meisten Christen. Die Zeugen Jehovas stellen sich hier und da mit einem „Wachturm“ an die Straßenecke, im schlimmsten Fall klingeln sie ab und zu an der Haustür. Viel mehr missionarischen Eifer bietet das Christentum nicht mehr. Atheisten dagegen, gerade in Deutschland, kultivieren mitunter eine fast schon militante Anti-Religiosität.
Die Klügeren argumentieren dabei philosophisch gegen den Glauben an sich. Doch die meisten attackieren eher die Organisation und die Institutionen des Glaubens: die Kirchen. Gerne wird dann auf Schulweisheiten aus den Untiefen der Erinnerung zurückgegriffen – die Kreuzzüge, die Inquisition, die Konfessionskriege…
Man könnte meinen, dass das wirkt. Nicht global, aber in Deutschland.
Im Jahr 1992 waren in der Bundesrepublik knapp 29 Millionen Menschen Mitglied der Evangelischen Kirche. Das entsprach einem Bevölkerungsanteil von fast 36 Prozent. Dazu kamen etwa 28 Millionen Katholiken (35 Prozent). Im Jahr 2023 gab es noch 20 Millionen Katholiken, das entsprach einem Bevölkerungsanteil von nur noch 24 Prozent. Bei der Lutherisch-Evangelischen Kirche in Deutschland war der Aderlass noch dramatischer: Sie zählte noch 18,5 Millionen Mitglieder (22 Prozent).
Aber das liegt nicht an den Kreuzzügen oder an der Inquisition oder an den Konfessionskriegen. Nicht die Vergangenheit der Kirchen vertreibt die Menschen in Deutschland, sondern ihre Gegenwart.
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Fromme Katholiken neigen dazu, Kritik an ihrer Kirche als Kritik an ihrem Glauben aufzufassen. Davon sollte man sich lösen. Man kann trefflich kirchenskeptisch und dennoch gläubig sein. Die „Heilige Kirche“ ist, nun ja, eine Erfindung der Kirche.
Man kommt allerdings nicht umhin festzustellen, dass es eine außerordentlich nützliche Erfindung ist. Organisationssoziologisch strebt jede Institution nach Selbsterhaltung. Nach diesem Maßstab ist die Katholische Kirche historisch nahezu einzigartig erfolgreich. Mehr als 2.000 Jahre hat sie fast unverändert überstanden und ist dabei stetig gewachsen (jedenfalls außerhalb Deutschlands).
Sie hat die Abspaltung der Anglikanischen Kirche überlebt, die Reformation und die Glaubenskriege. Sie hat zeitweise zwei miteinander konkurrierende Päpste verkraftet. Weder Kopernikus noch Galileo, weder Descartes noch Kant, weder Darwin noch Einstein konnten ihr auf Dauer etwas anhaben.
Wenn es in der Geschichte der Menschheit jemals eine stabile Institution gab, dann ist es die Römisch-Katholische Kirche.
Die Stabilität verdankt sie maßgeblich Strukturen, die zwar heute oft und heftig in Frage gestellt werden, die aber fraglos das Gebäude über zwei Jahrtausende sehr wirksam gestützt haben. Zentral sind dabei vor allem – nicht inhaltlich, aber organisationspolitisch – der Papst und der Zölibat.
Priester sollen die Weltsicht des Klerus verbreiten, die den Gläubigen als Wahrheit verkündet wird. Die strenge pyramidale Hierarchie mit dem „unfehlbaren“ Papst an der Spitze erleichtert die Formulierung des Katechismus: Es gilt, was der Pontifex sagt. Der Zölibat wiederum verhindert, dass Priester offiziell Familien gründen und dadurch womöglich in Loyalitätskonflikte geraten. Im Zweifel soll die Loyalität der Kirchenvertreter allein der Kirche gelten.
So sehr dieser Ansatz inhaltlich in unseren vermeintlich modernen Zeiten auch kritisiert werden mag: Funktional erfüllt er seinen Zweck hervorragend.
So eine stabile Außenhaut kann allerdings auch leicht verkrusten. Dann gedeihen darunter unangenehme Fehler, und Missstände verstetigen sich. In der Katholischen Kirche ist das vor allem der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, den man auch bei größter Nachsicht nicht mehr anders als systematisch nennen kann. Der Umfang dieses Missbrauchs über die Jahrzehnte würde jede andere Institution rettungslos diskreditieren. Und der Umgang der Kurie damit kann – wenn vielleicht nicht im juristischen, so doch sicher im alltäglichen Sprachgebrauch – nur als Verschwörung zur Vertuschung von Straftaten bewertet werden.
Wäre das in einer anderen Organisation als der Katholischen Kirche passiert, dann würde man sie mit einiger Berechtigung als kriminelle Vereinigung betrachten.
(Missbrauch gibt es auch in der Evangelischen Kirche, gerade in Deutschland. Ob das Ausmaß ähnlich ist wie in der katholischen Welt, muss noch geklärt werden.)
Nicht nur diese eine, unzweifelhaft extrem dunkle Seite der Kirche stößt viele Menschen in Deutschland zunehmend ab. Auch die Selbstinszenierung vor allem im Vatikan – mit Prunk und Luxus, mit Samt und Seide – lässt Gläubige daran zweifeln, wie ernst so manche Kirchenfürsten es mit der Selbstlosigkeit und mit der Hilfe für die Armen dieser Welt wirklich meinen.
Es fällt schwer, einer angeblich wohltätigen Organisation zu vertrauen, die sich nicht selten wie ein mafiöser Herrenclub präsentiert.
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Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) hat keinen Papst und kennt kein Zölibat. In ihr kann eine geschiedene Frau, wie Margot Käßmann, Bischöfin und sogar EKD-Ratsvorsitzende werden.
Trotzdem laufen der EKD die Gläubigen in noch größeren Scharen davon als der Katholischen Kirche. Es sei eine kühne These gewagt: Das dürfte vor allem daran liegen, dass die deutschen Amts-Protestanten ein Diktum ihres unfreiwilligen Kirchengründers beharrlich ignorieren.
„Pfaffen sollten beten und nicht regieren.“ (Martin Luther, Tischreden XXI, vermutlich 1538)
Viele Christen weltweit werfen dem Islam vor, sich weniger als Religion denn als politische Ideologie zu verstehen. Vor allem die absolute Unterordnung der weltlichen Gewalt unter die Gebote des Koran entspricht so gar nicht der Trennung von Religion und Staat, die nach dem 30-jährigen Krieg bei uns allmählich entstanden ist und heute unser Verfassungsverständnis prägt.
Ausgerechnet diesen säkularen Ansatz hat die EKD in den vergangenen drei Jahrzehnten über Bord geworfen. Die real existierende EKD ist mittlerweile so etwas wie der spirituelle Arm der Grünen. Ab und zu teilen sich Kirche und Partei auch das Personal: Katrin Göring-Eckardt zum Beispiel war von 2009 bis 2013 Präses der Synode der EKD und gleichzeitig für Bündnis‘90/Grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags.
Evangelische Kirchentage und Parteitage der Grünen sind inzwischen kaum voneinander zu unterscheiden. Abtreibung, Klimaschutz, Migration: Die Positionen sind quasi identisch. Und sie werden nicht theologisch dekliniert, sondern politisch.
Abtreibung ist für die EKD ausschließlich nur noch eine Frage der Frauenrechte. Selbst absolut ernsthafte und seriöse Argumente für Lebensschutz und Kinderrechte gelten von vornherein als misogyn und werden entsprechend aus dem Diskurs entfernt.
Klimaschutz hat für die EKD den Stellenwert eines Elften Gebots – das obendrein über allen anderen Geboten steht. Rationale Abwägungen der (vermuteten) Interessen künftiger Generationen mit den Interessen der jetzt schon Lebenden sind verpönt und werden entsprechend aus dem Diskurs entfernt.
Migration ist von der EKD zum eigentlichen biblischen Glaubenskern erkoren worden. Dabei wird das christliche „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ gleich doppelt missverstanden: Der Nächste ist nicht der Fernste. Der Heiland hat auch nicht dazu aufgerufen, dass man andere Menschen mehr lieben möge als sich selbst – sondern eben nur genauso wie sich selbst. Eine Aufforderung von Christus an seine Anhänger zur Bevorzugung bzw. Besserstellung von Fremden gegenüber den Eigenen hat es nicht gegeben. Und auch für die gerade in evangelischen Kreisen verbreitete Neigung zum nationalen Selbsthass finden sich keine geeigneten Bibelzitate.
Trotzdem kümmert sich die EKD heute bevorzugt um die Finanzierung von höchst fragwürdigen Schlepper- und Schleuserschiffen im Mittelmeer – ganz so, wie vor ein paar Jahrzehnten in evangelischen Gemeinden geradezu enthusiastisch Geld gesammelt wurde, um damit Waffen für Nicaragua zu kaufen.
Persönliche Seelsorge und religiöse Glaubensfragen sind im EKD-Kosmos verdrängt von apokalyptischer Klimarhetorik und unerschütterlicher Zuwanderungseuphorie. Die EKD ist heute keine Glaubensgemeinschafft mehr, sondern eine politische Vereinigung.
In der Corona-Zeit stellten sich beide deutschen christlichen Amtskirchen dann stramm an die Seite des Staates und gegen Millionen Gläubige. „Impfen ist Christenpflicht“, verkündete das Erzbistum Köln im Jahr 2021 – allerdings ohne die entsprechende Bibelstelle mitzuliefern, aus gutem Grund. Und während der Lockdowns blieben die meisten Kirchen geschlossen – also genau dann, als unzählige Menschen vereinsamten und Angst hatten und Zuspruch und Trost brauchten. Das war ein Tiefpunkt des deutschen Kirchenlebens. Selbst in den Zeiten der Pest waren die Kirchen geöffnet geblieben.
Kein Wunder, dass Menschen ihr Seelenheil woanders suchen.
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Das gilt erst recht, wenn führende deutsche Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen ihren Glauben in heiklen Momenten nicht vertreten, sondern verstecken.
Im Oktober 2016 hatten der damalige Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, gemeinsam den Tempelberg in Jerusalem besucht. Für Juden, Moslems und Christen ist das jeweils einer der heiligsten Orte der Welt.
Marx und Bedford-Strohm, die seinerzeit wichtigsten Repräsentanten der deutschen Christenheit, nahmen vor dem Besuch jeweils ihr Brustkreuz ab, „um nicht zu provozieren“.
Wenn kirchliche Vertreter sich so verhalten, dann dürfen sich die Kirchen über Mitgliederschwund nicht beklagen. Millionen Christen sind für ihren Glauben gestorben. Millionen Christen wurden gefoltert und getötet, weil sie sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören. Friedfertigkeit bedeutet nicht Selbstaufgabe. Sanftheit bedeutet nicht Feigheit.
Es gibt wenig Unchristlicheres, als seinen christlichen Glauben zu verleugnen.
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Allmählich spricht sich auch herum, dass die Kirchen bei uns sich auch in ihrem Geschäftsgebaren durchaus recht unchristlich aufführen können.
In der angeblich säkularen Bundesrepublik Deutschland genießen die Kirchen bedeutende Privilegien. Das für sich genommen ist bedenklich. Aber vor allem das kirchliche Arbeitsrecht ist ein ausgemachter Skandal.
In Deutschland sind alle Arbeitgeber gleich, aber die Kirchen sind gleicher.
Die kirchlichen Arbeitgeber bei uns genießen Sonderrechte. Allein die Caritas hat 740.000 Mitarbeiter und ist der größte Arbeitgeber des Landes, die Diakonie hat knapp 670.000 Beschäftigte – es betrifft also sehr, sehr viele Menschen. Und es sind erhebliche Sonderrechte:
Von ihren Sonderrechten machen die Kirchen weidlich Gebrauch. Über kaum einen anderen Arbeitgeber gibt es so viele Beschwerden von Mitarbeitern. „Die Kirchenspitze will fundamentale Rechte der Beschäftigten offenbar noch immer nicht respektieren“, beklagt die Gewerkschaft ver.di.
Als Arbeitgeber sind die Kirchen kein christliches Vorbild.
Dass beide großen Konfessionen bei uns die Gläubigen vergraulen, dürfte mit einiger Sicherheit auch daran liegen, dass zumindest das Einkommen der Spitzenfunktionäre trotzdem gesichert ist: durch die Kirchensteuer.
Kirchenbeiträge gibt es in vielen Ländern. Doch in keinem anderen Land erhebt das staatliche Finanzamt den Betrag automatisch. In Italien und Spanien wird zwar jeweils ein kleiner Teil der Einkommensteuer an anerkannte Religionsgemeinschaften oder für humanitäre Zwecke abgeführt. Jeder Steuerbürger entscheidet aber jedes Jahr neu, an wen das Geld gehen soll. Deshalb wirbt zum Beispiel die italienische Katholische Kirche sogar in Werbespots dafür, dass die Bürger ihr den Zuschuss zukommen lassen.
Bei uns erhebt der Staat die Kirchensteuer und leitet sie automatisch weiter. Das macht die beiden großen Amtskirchen in Deutschland satt und selbstgefällig – ganz ähnlich dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Und genau wie dem ÖRR, so läuft auch den Kirchen das Publikum weg.
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Global wächst die Zahl der Christen stark. Auch die Amtskirchen haben Zulauf – außerhalb Deutschlands. Es fehlt also nicht am Glauben. Es fehlt am Zutrauen zu den Kirchen, jedenfalls bei uns.
Für das deutsche Christentum muss das keine schlechte Nachricht sein. Sicher: Der Mensch will vor Gott nicht alleine sein, sondern das Göttliche in der Gemeinschaft erleben. Der Glaube braucht die Gemeinschaft.
Doch der Glaube braucht keine Institution. Der Glaube braucht Menschen, die gemeinsam und miteinander beten. Aber er braucht keine Priester.
Gott braucht keine Kirche.