
Eine gute Stunde zu spät tritt der neue Bundesminister des Innern am Mittwochabend kurz vor 18 Uhr vor die Presse. Die verspätete Amtsübergabe wegen der Kanzlerwahl am Vortag ... 3000 zusätzliche Bundespolizisten werden künftig die deutschen Grenzen und die „illegale Migration“ kontrollieren. Schritt für Schritt werde es mehr Kräfte geben, mehr Zurückweisungen, aber „keine Überforderung unserer Nachbarn“. Auch würden „vulnerable Gruppen“ (zum Beispiel minderjährige Asylbewerber und schwangere Frauen) nicht zurückgewiesen.
Dobrindt steht an diesem ersten Arbeitstag auch durch Kanzler Friedrich Merz unter Druck. Vor dem Auftritt habe es ein längeres Telefonat mit Dobrindt gegeben, erfuhr NIUS aus Kreisen des Bundesinnenministeriums. Darin habe Merz unter anderem darum gebeten, dass Dobrindt keine medienwirksamen Auftritte an der polnischen Grenze planen solle. Merz stand bei seiner Antrittsreise nach Polen sichtlich in der Kritik wegen der angekündigten Zurückweisungen. Polens Ministerpräsident Donald Tusk erklärte auf offener Bühne, dass er ein Chaos und Staus an den Grenzen befürchte und von den deutschen Maßnahmen wenig halte.
Der neue Innenminister weiß, dass er eine Gratwanderung vollzieht. Er muss für die Wähler der Union und möglichst viele Kritiker der bisherigen Migrationspolitik eine möglichst harte Wende verkünden und darf gleichzeitig nicht zu brutal klingen, damit der Koalitionspartner SPD nicht auf die Barrikaden geht und der Gegenwind aus den eher migrationsfreundlichen Medien nicht gleich zu Beginn zum Sturm gegen die Merz-Regierung wird. „Es wird keine Grenzschließung geben“, sagt Dobrindt in dem schmucklosen Presseraum des Berliner Innenministeriums, wo ihn einige Journalisten sogleich mit europarechtlichen Hürden konfrontieren.
Dobrindt greift unauffällig durch. Gemeinsam mit dem Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, verkündet er an seinem ersten Tag im Amt nichts weniger als das Ende der Migrationspolitik von Kanzlerin a.D. Angela Merkel. Die hatte am 13. September 2015 mündlich die Weisung erteilen lassen, auch jene Migranten an den Grenzen aufzunehmen, die keine Papiere oder anderweitig erkennbar kein Recht auf Asyl haben, weil sie zum Beispiel schon aus sichereren Drittstaaten einreisen. Dieses sogenannte Selbsteintrittsrecht Deutschlands zur freiwilligen Aufnahme werde er noch heute schriftlich zurücknehmen, sagt Dobrindt. Was technisch klingt, ist in Wahrheit einer der zentralen Punkte, der die ungeregelte illegale Migration nach Deutschland erst möglich machte und 2018 fast zum Bruch der Fraktionsgemeinschaft mit der CSU geführt hätte. Ganze zehn Jahre hat Deutschland gebraucht, allen Hilferufen der Kommunen und der Bundesländer zum Trotz, zumindest diese Rechtsregel wieder aufzuheben.
Bundespolizeipräsident Dieter Romann (l) und Alexander Dobrindt (CSU), Bundesinnenminister, äußern sich bei einer Pressekonferenz im Bundesministerium des Innern zur Situation an den deutschen Grenzen.
Doch Dobrindt ist viel mehr als der „Grenz-Zar Alexander“, der die Versprechen von Friedrich Merz (CDU) in der Migrationspolitik einlösen soll. Dobrindt ist im Grunde der einzige, erfahrenste und mit allen Wassern gewaschene Profi dieser Bundesregierung. Er war bereits Bundesverkehrsminister, kann ein Haus mit hunderten Mitarbeitern administrieren, als langjähriger Landesgruppenchef der CSU kennt er sämtliche Politikfelder und – noch viel wichtiger – die Fallstricke, Hinterhalte und Tricks von komplizierten Streitthemen, über die man vor und hinter den Kulissen verhandeln muss. Noch am Vortag war es Dobrindt, der seinem Kanzler gewissermaßen den Allerwertesten rettete und nach dem gescheiterten ersten Wahlgang den Draht zur Linkspartei hatte und erfolgreich aktivieren konnte.
Dabei ist Dobrindt alles andere als ein Mann mit flexiblem Mäntelchen im Wind des Zeitgeistes. Im Kern ist Dobrindt ein Linken-Fresser. Als ehemaliger CSU-Generalsekretär (von dem ältere Fotos einen Doppel-Zentner-Mann mit rundem Gesicht zeigen) galt er als einer der Scharfmacher der Union und argumentiert bis heute heftig gegen die Grünen, die er als eine Art linke Wölfe im bürgerlichen Schafspelz sieht. Der Unterschied ist: Dobrindt ist kein Wut-Bürger. Wenn andere Panik bekommen, wird er ruhig, fokussiert, konzentriert. Der studierte Soziologe ist stets kontrolliert, lässt sich Zahlen und Statistiken kommen, beschäftigt sich mit den Ängsten der Deutschen und würde nie ohne minutiöse Vorbereitung in ein Interview oder einen Auftritt gehen. Eine kurze Phase mit schrillen, wild gemusterten Anzügen und bemerkenswerten Schnallenschuhen legte er schnell ab, als es bei ihm daheim in Oberbayern nicht so ganz bodenständig ankam.
Dobrindt will siegen, aber der Gegner soll erst hinterher merken, dass er verloren hat. Als Stratege ist er für seinen CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder trotz anfänglichen Fremdelns inzwischen nahezu unersetzlich geworden. Und er ist einer der Wenigen, die Söder intern die Meinung sagen. In den Koalitionsverhandlungen führte Dobrindt über weite Strecken dezent die Gespräche mit SPD-Chef Lars Klingbeil, hatte immer auch in komplizierten Lagen gesichtswahrende Lösungen, um nicht in ideologischen Sackgassen zu landen. Als Verkehrsminister tüftelte Dobrindt ehedem eine raffinierte Variante der Pkw-Maut für Ausländer aus, die dann allerdings in der Amtszeit seines Nachfolgers Andreas Scheuer (CSU) an den Europa-Richtern scheiterte. Insofern hat sein politischer Ziehvater und Ex-CSU-Chef Horst Seehofer am Ende mit dem Bonmot doch noch recht behalten: „Ein Alexander Dobrindt scheitert nicht.“
Alexander Dobrindt, CSU, und Lars Klingbeil, SPD
Nun also soll Dobrindt DAS Gesicht der Asylwende von CDU und CSU werden. Er soll nicht gnadenlos wirken und doch wie einer, der hart durchgreift. Auch Bundespolizeipräsident Dieter Romann, einer, den sie intern einen „harten Hund“ und „Rominator“ nennen, referiert am Mittwoch vor allem Zahlen, bei denen man genau hinhören muss, um die Dramatik zu verstehen: 940.000 Asylanträge seien im vergangenen Jahr in Europa gestellt worden, obwohl lediglich 239.000 unerlaubte Einreisen registriert wurden. Im Klartext: Rund 700.000 Migranten müssen unerkannt illegal eingereist sein. Viele davon nach Deutschland. „Humanität und Ordnung“ lautet der elegante Zweiklang, mit dem Dobrindt Durchgriff zeigen will, ohne unbarmherzig zu wirken.
Und dann ist da am Ende seines ersten Auftritts noch so ein typischer Dobrindt, dessen Vorliebe für einprägsame Alliterationen Reporter inzwischen mitunter schon grinsen lassen: „Klarheit, Konsequenz und Kontrolle“ werde er durchsetzen, sagt Dobrindt im Stabreim. Doch klangvolle Worte werden am Ende für den neuen Bundesinnenminister wohl nicht reichen.
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