
Es gibt eines, worauf man sich beim deutschen Staat doch immer verlassen kann: Antworten zu geben auf Fragen, die niemand gestellt hat. Sowas wie: Wie kann ich über ein Jahr meiner Jugend isoliert in meiner Wohnung verschwenden? Wie kann ich noch mehr Steuern zahlen? Wie kann ich 18,36 Euro im Monat verschenken? Wen muss ich wählen, damit sich der Staat möglichst weit in mein Privatleben einmischt? Und dann natürlich der aktuelle Dauerbrenner: Wie kann ich mich so schnell wie möglich aus Versehen strafbar machen?
Diese Antwort bekommt man nicht auf Papier, in gelben Umschlägen oder aus den Nachrichten, sondern gerne zu gottlosen Zeiten in der Früh, von Polizisten, die überraschend an der Tür klingeln, obwohl die Junggesellinnen-Party doch erst am Donnerstag ist und deren Handschellen nicht mit Leopard-Plüsch überzogen sind. Wenn man sie doch auf Papier bekommt, dann steht da meistens „Strafbefehl“ drüber und mindestens ein geschätztes Monatseinkommen drunter. Dann muss man sich einen Anwalt nehmen und zu allem Überfluss auch noch feststellen, dass die in echt nicht aussehen wie Keanu Reeves in „Im Auftrag des Teufels“.
Die Ehrdelikte, ganz besonders die Beleidigung und ihre Qualifikation im Paragrafen 188 Strafgesetzbuch, sind ein seltsames Phänomen des deutschen Rechts. Nicht zuletzt, weil es sich nach meinem Empfinden etwas verstaubt anfühlt, dass die Ehre etwas ist, das der Staat für mich verteidigt. Man könnte schon darüber nachdenken, ob man dieses Konzept nicht weitestgehend da lässt, wo es hinpasst – im Mittelalter, beim Duell um die Ehre und den guten Ruf einer holden Maid, über die jemand behauptet hat, er habe ihren Knöchel gesehen und sie verruchtes Luder nennt.
Ich bin nicht scharf darauf, dass sich jeder gegenseitig beschimpft und beleidigt, und ich möchte schwere Fälle von Verleumdung nicht verharmlosen. Doch – wie wahrscheinlich jeder Mensch auf der Welt – bin ich schon mal beleidigt worden. Und – meinen Bademantel gezückt – gestehe ich, dass ich zumindest nicht ausschließen kann, dass ich möglicherweise schon mal jemanden beleidigt haben könnte. Wie wahrscheinlich auch jeder auf dieser Welt. Denn für den erforderlichen Vorsatz muss man ja immerhin nur in Kauf genommen haben, dass man den anderen beleidigt. Das ist eine Schwelle, die man doch schon ganz schnell mal überschreiten kann.
Und obwohl wir alle schon mal beleidigt wurden, sind nur die allerwenigsten von uns schon zur Polizei gerannt, haben Strafanzeige und dann nochmal Strafantrag ausgefüllt und den bösen Übeltäter vor Gericht gezerrt. Denn als erwachsene Menschen finden wir doch andere Möglichkeiten, mit solchen Situationen umzugehen, als zum Staatsanwalt zu rennen, um seine angeknackste Ehre rächen zu lassen.
Zu Mami rennen zum Beispiel. Oder in der Dusche einen Tag später das Gespräch nachstellen und überlegen, was man alles hätte kontern können. Oder auf diese ganzen Sprichwörter zurückgreifen, die unsere weisen Vorfahren sich mal für genau solche Situationen ausgedacht haben: „Wenn die Jacke mir nicht passt, ziehe ich sie mir nicht an“, das gleiche nochmal mit Schuhen – oder ganz klassisch: „Selber Arschloch“. Die meiste Zeit aber hat man solche Situationen fünf Minuten später schon längst wieder vergessen.
Ich finde ja, ein Schaden, der mit einmal tief durchatmen wieder behoben ist, sollte die Strafverfolgung nicht kümmern müssen, aber das ist nur meine Meinung. Es geht nach der Meinung des Gesetzgebers, und der will da Geldstrafe oder bis zu ein Jahr Gefängnis drauf – bei Personen des politischen Lebens bis zu drei Jahre. Und die Rechtsprechung macht keine Anstalten, die Tatbestände restriktiv auszulegen.
Das eröffnet dann so Rechtsprobleme, wie die Frage, ob es denn jetzt eigentlich ehrverletzend ist, jemanden als schwul zu bezeichnen – da es ja einerseits beleidigend gemeint sein und aufgefasst werden kann, aber es ja eigentlich nicht schlimm ist, schwul zu sein und deshalb dann eigentlich nicht beleidigend ist. Bei der Frage nach der Ehrverletzung kommt es nicht auf Fakten oder sonstige messbare Indikatoren an. Man kann aus der Rechtsprechung vielleicht ein vages Gefühl dafür entwickeln, was zu weit geht und was noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, aber am Ende kommt es doch im Grunde auf das Empfinden und die Empfindlichkeit des Richters an.
Selbst Strafrechtsprofessoren kommen ins Straucheln, wenn sie in einer Vorlesung erklären sollen, ab wann denn jetzt in der Praxis ein strafbarer Angriff auf die Ehre einer anderen Person durch Kundgabe eigener Missachtung oder Nichtachtung vorliegt. Das endet dann immer damit, dass sie Beispiele von Beleidigungen aufzählen, die so harmlos sind, dass man sie nicht mehr unter den Straftatbestand zählen kann. Ein Beispiel, das bei uns immer gefallen ist: „Idiot“.
Aber selbst das ist offenbar keine zuverlässige Linie. Denn wie wir alle der Presse entnehmen konnten, reicht schon ein „Voll-“ davor aus, um diese Grenze zumindest nach Meinung der Staatsanwaltschaft Bamberg zu verschieben. Was dann mal eben den Unterschied zwischen Gesetzestreue und Hausdurchsuchung bedeutet. Bringt man dann noch den Paragrafen 188 ins Spiel, geht jedes Maß verloren. Inzwischen spezialisieren sich schon Anwälte darauf, mit eigens dafür eingerichteter Software die Tiefen des Internets zu durchwühlen. Dann finden sie dort irgendwo den Post eines absoluten No-Name-Accounts mit 13 Followern, 12 davon chinesische Pornobots, und legen ihn Politikern vor, die diesen Post sonst nie im Leben zu Gesicht bekommen hätten.
Und es gibt tatsächlich Staatsanwälte und Richter, die die Eignung zur Erschwerung des öffentlichen Wirkens dieses Politikers als gegeben ansehen. Niemand hält kurz mal inne und hinterfragt diese Rechtspraxis kritisch. Niemand legt diesen Politikern mal ans Herz, dass sie – wenn sie so leicht in ihrer Ehre verletzbar sind – vielleicht wenigstens nicht das ganze Internet nach Beleidigungen durchsuchen lassen sollten. Niemand stellt mal fest, dass schon das Verfahren – auch wenn es am Ende in einem Freispruch endet – zig Mal härter für den Angeklagten ist, als es seine vermeintliche Beleidigung jemals für sein Opfer war.
Doch dann kommt Alice Weidel. Die man ja angeblich gerichtsfest als „Nazischlampe“ bezeichnen darf. Und stolpert auch über den Paragrafen 188. Und schwups, ist die ewige Leier von „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum“ vorbei. Nein, da kommt Lars Wienand von t-online um die Ecke und macht eine Investigativrecherche draus. Und sämtliche Medien springen auf den Zug auf.
Endlich können sie in ein Geschäft einsteigen, das sie bis dato eigentlich als zu schmuddelig-populistisch abgelehnt hatten: Szenische Schilderungen von unbedarften Privatpersonen, bei denen eines Tages plötzlich die Polizei vor der Haustür steht – wegen Äußerungen im Internet. Plötzlich, wenn man der AfD einen Doppelstandard vorwerfen kann, ist man doch in der Lage einzusehen, dass der 188 vielleicht doch auch seine Fehler hat.
Da sieht man auch, wie schnell es mit der Zivilcourage vorbei ist. Alice Weidel als „Nazischlampe“ zu bezeichnen macht keinen Spaß mehr, wenn es plötzlich Konsequenzen hat. Konsequenzen, die man vorher noch mit Schadenfreude beobachtet hat, als es die anderen getroffen hat. Wer trotz dessen immer noch nicht glaubt, wie schnell man sich mit einer unbedachten Äußerung aus Versehen ins Visier der Staatsanwaltschaft manövrieren kann, der sollte mal bei Robert Habeck vorbeischauen.
Der 188-König, der mit dem „Schwachkopf“-Verfahren im Grunde den Präzedenzfall schlechthin begründet hat, ist nämlich nur knapp dem Schicksal entronnen, das er sonst nur allzu leichtfertig anderen gönnt. Denn die Bemerkung: „Sich (…) für seine Meinung bezahlen zu lassen, im Internet Stimmen zu kaufen, Troll-Armeen aufzubauen, eine Meinung gekauft zu bekommen: Das ist widerlich, und das gehört sich nicht, und wir wissen, dass AfD und BSW genauso bezahlt werden“, auf einer Wahlkampfveranstaltung in Dresden, stellte sich nun als strafrechtlich relevant dar.So strafrechtlich relevant, dass beim Bundestag der Antrag einging, Robert Habeck für ein Strafverfahren in diesem Fall die Immunität zu entziehen. Nun hatte Robert gleich in zweifacher Hinsicht Glück. Einerseits ist es allgemein anerkannt, dass Parteien insbesondere im Kontext des Paragrafen 188 nicht beleidigungsfähig sind – die Gefängnisstrafe, die ihm sonst gedroht hätte, stand damit nicht mehr im Raum. Andererseits hielt ihm der Bundestag den Rücken frei und stimmte gegen die Aufhebung der Immunität. Doch der Fall zeigt: Selbst die gerechtesten und moralischsten Menschen unserer Gesellschaft sind nicht mehr davor sicher, sich auf richterliche Anordnung den Mund mit Seife auszuwaschen.