
Die Dummheit ist kein intellektuelles Defizit, sondern eine Folge von Politik – von entfesselter Macht. Dietrich Bonhoeffer beschrieb sie 1943 – und traf damit erschreckend genau das, was heute unter dem Etikett „Frühwarnsystem“ als Sprachpolizei gegen freies Denken agiert. „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen“, schreibt Bonhoeffer – und die vergangenen zehn Jahre der Bundesrepublik belegen es. Ein Essay.
Weil die „Grenzen meiner Sprache“, wie Wittgenstein sagte, „die Grenzen meiner Welt“ bedeuten, birgt die Sprachpolizei die Gefahr, sie in ein Gefängnis zu verwandeln. Jeder Versuch, Wörter zu verbieten und ihnen finstere Absichten zu unterstellen, muss im Keim erstickt werden.
Auf Wörterstigmatisierung basiert das „Frühwarnsystem“ – so lautet das Selbstverständnis des Verfassungsschutzes seit Haldenwang –, das Alarm schlägt, wenn jemand außerhalb der Sphäre „erlaubter“ Rede spricht. Bei Erdbeben bestehen Frühwarnsysteme darin, dass Seismografen erste Wellen registrieren, um damit vor dem Hauptbeben zu warnen. Von dieser Logik zehrt der Inlandsgeheimdienst, wenn er falsche Wörter als Vorboten von verfassungsfeindlichen Katastrophen betrachtet – und dabei Hyperventilation mit Gefahrendiagnose verwechselt.
In Europa die Ausnahme: Ein Inlandsgeheimdienst will „Wertprinzipien“ schützen.
In Thüringen formieren vier Parteien eine Regierung. Nicht, weil eine von ihnen besonderes Wählervertrauen genießen würde – sondern in einer Koalition gegen den Wahlsieger. Wer ein solches Parteienkartell genauso – als „Parteienkartell“ – bezeichnet, wird vom Verfassungsschutz als Feind der Demokratie markiert, wie das inzwischen veröffentlichte AfD-Gutachten zeigt. Währenddessen kriminalisiert eine Bundestagsvizepräsidentin das bloße Wort „Remigration“ im Parlament, weil das ein aus unserer Geschichte belasteter Begriff sei – als hätte die NS-Politik je das Ziel verfolgt, eine in Weimar organisierte Masseneinwanderung, die dem geltenden Recht widersprach, rückabwickeln zu wollen.
Es ist schlichtweg inakzeptabel, Wörter inoffiziell zu verbieten und sie mit finsteren Absichten zu belegen, die angeblich in ihnen lägen. Denn die Paranoia, die damit einhergeht, zielt auf die menschliche Kommunikation selbst, indem sie Verstehen auf die Logik eines PCR-Tests reduziert: Sobald die vorher festgelegten „Wort-Sequenzen“ beim Sprecher positiv testen, gilt derjenige als infiziert. Das erspart dem Denken die Mühe, einzelne Aussagen in ihrer Gesamtheit zu bewerten, und gewöhnt das Vermögen ab, wirklich zuzuhören. Es erzeugt Haltung, die keine Beweise mehr verlangt, weil Buzzwords genügen. Dummheit wird Methode.
Dietrich Bonhoeffer, ein evangelischer Theologe, der seinerzeit Widerstand gegen den Nationalsozialismus übte, schreibt in einem kurzen Text namens „Von der Dummheit“: „Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt“. Unter „dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung“ werde „dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt“, sodass er „darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden.“
2015: Migranten begehren mit Verweis auf Merkel Asyl.
Innere Selbstständigkeit – das ist die Aktivität, aus eigener Verstandeskraft die Gründe, Belege und Erfahrungen zusammenzuführen, aus denen sich schließlich die eigene Meinung bzw. das Urteil bilden wird. Wo Beweise unter Verschluss gehalten werden, die gewünschte Meinung in Form eines Ergebnisses aber publiziert ist, kann es dazu freilich nicht kommen. Seit den allerersten Einstufungen von AfD-Verbänden, deren Gutachten stets geheim blieben, erwartete die Politik und der Verfassungsschutz folglich, dass die Deutschen seinen Einstufungen aus anderen Gründen folgen als dem geheim gehaltenen Argumentationsweg. Es entsprach dem Übergang von Meinung, die man sich bildet, zu Haltung, die man annimmt.
Bonhoeffer wird gern von herrschenden Politikern vereinnahmt – doch wer ihn ernst nimmt, liest ihn gegen die herrschende Politik – und zwar die der vergangenen zehn Jahre. Unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung, die 2015 mit Merkels „mündlicher Anweisung“ einsetzte, ersetzte äußere Haltung („Zeichen setzen“, „Gesicht zeigen“, „Wir sind mehr“) die innere Selbstständigkeit. Ein großer Teil der Menschen wurde mit Dummheit geschlagen: Der Staat, der im Namen „unserer Demokratie“ zur Wehrhaftigkeit mobilmacht, hat eine Armee von Verblendeten gezüchtet, welche auf Demos auflaufen, die er mit Steuergeld organisiert. Gründe anzuführen, die über „Schlagworte, Parolen etc.“ (Bonhoeffer) hinausgehen, können ihre Teilnehmer kaum.
Wer sich beispielsweise gegenüber Linken, die damit nicht gerechnet hätten, schonmal als Verteidiger Trumps bekannt hat, auf den dürften Bonhoeffers Worte nur allzu vertraut wirken: „Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm [dem Dummen], daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne (…).“
Weiter schreibt er: „So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen.“ Wie etwa im Familienkreis eines rechtskonservativen Youtubers zu schnüffeln, um Gerüchte über ihn zu erfinden und öffentlich auszuschlachten. Jan Böhmermann ist das Gesicht jener Dummheit, die zu allem fähig ist – und deren Bosheit nicht einmal mehr die Zeit erkennt, die mit ihm paktiert. „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen“, schreibt Bonhoeffer. Böhmermann und Christian Fuchs, der Zeit-Autor, folgten beide in ihren Anklagen gegenüber „Clownswelt“ den Einschätzungen des Verfassungsschutzes. Die Macht braucht eben ihre Hilfe.
Die „Zeit“ beteiligte sich an einer Hetzkampagne des ZDF.
Für Bonhoeffer ist die Dummheit „nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt.“ Auch intellektuelle Menschen können dumm sein – und umgekehrt; entscheidend sei, dass „unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen.“
Wer nach zehn Jahren Regierungspolitik, die mit verstetigten Notständen am Parlament folgenreich vorbeiregierte, in Parteinahme für die Verantwortlichen, noch über den Inlandsgeheimdienst die Opposition verbieten will, der hat sich von der Macht wahrlich dumm – und gefährlich – machen lassen.
Bonhoeffer schrieb „Von der Dummheit“ im Jahr 1943, inhaftiert im Gefängnis der Gestapo. Seine Erfahrungen hatte er im Nationalsozialismus gemacht – der im Text aber gar nicht vorkommt, ja nicht einmal angedeutet wird. Zeitlos sind seine Einsichten, weil sie von der NS-Zeit abstrahieren, obwohl sie ihr – auch – entspringen. Was er über die Dummheit schreibt, beschreibt eine auf universellen Gesetzmäßigkeiten beruhende Schnittmenge zwischen „heller“ Gegenwart und düsterer Vergangenheit. Die eigentliche Gefahr ist daher kein „Viertes Reich“ – sondern das, was damals war und heute noch ist.
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