Höchste Zeit für die Kernfusion

vor 16 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Der Weg zur Kernfusion ist definiert. Zunächst gilt es, Wasserstoff auf einige tausend Kelvin zu erhitzen, damit sich alle molekularen Bindungen lösen und am Ende selbst die Elektronen ihrer Fesselung an die Atomkerne entkommen. Das so entstandene Gemenge aus geladenen Teilchen, Plasma genannt, kann in elektromagnetischen Feldern eingefangen, stabilisiert und mit Mikrowellen weiter erwärmt werden. Bis schließlich bei 100 Millionen Kelvin oder mehr die nackten Atomrümpfe ihre gegenseitige Abstoßung überwinden, miteinander verschmelzen und dabei wieder Energie freisetzen.

Ein Vorgang, der in Forschungsreaktoren wie in prototypischen Anlagen kommerzieller Natur an dutzenden Orten rund um die Welt täglich stattfindet. Alternativ löst auch ein starker, durch Strahlung oder auf mechanische Weise eingebrachter Impuls die Bildung schwerer aus leichten Kernen aus. Unter der Bezeichnung Trägheitsfusion bekannt, stellt diese Variante ebenfalls seit Jahren eine gängige, vielfach exerzierte Praxis dar.

Die Auslösung kontrollierter Kernfusionen in einer artifiziellen Umgebung ist also längst zur Routine geworden. Zur unerschöpflichen, unbegrenzt skalierbaren, intrinsisch sicheren, umweltfreundlichen und unschlagbar günstigen Energiequelle fehlt heute nur noch eine technische Realisierung, bei der Fusionsreaktionen mehr Energie erzeugen als zu ihrer Zündung und Aufrechterhaltung erforderlich.

Für die Trägheitsfusion ist deren Machbarkeit durch Versuche an der National Ignition Facility (NIF) des Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) in Kalifornien, USA, seit dem fünften Dezember 2022 experimentell nachgewiesen. Für den magnetischen Einschluss, beispielsweise in einem Tokamak oder einem Stellarator, belegen zahlreiche theoretische Kalkulationen mehrere mögliche Pfade zum Netto-Energiegewinn.

Die wohl simpelste Option besteht darin, mit bereits verfügbarer Technik schlicht das Volumen des heißen Plasmas zu erhöhen, also den Reaktionsraum zu vergrößern. Der in Garching bei München durch das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik betriebene Tokamak namens ASDEX (das Akronym steht für AxialSymmetrisches Divertor-EXperiment) hat lediglich ein Plasmavolumen von vierzehn Kubikmetern. Der Stellarator Wendelstein-7X in Greifswald weist immerhin schon fünfzig Kubikmeter auf. Der seit 2023 nicht mehr operative Joint European Torus JET in Culham (GB) kratzte mit hundert Kubikmetern schon knapp an der Grenze. ITER schließlich wird mit mehr als 400 Kubikmetern die Schwelle zum Netto-Energiegewinn locker überschreiten.

Die Kernfusion befindet sich an einem Punkt, an dem die Physiker den Ingenieuren ganz genau erklären können, was sie zu erledigen haben. Wie lange es noch dauert, bis letztere damit fertig sind, hängt allein an der Menge des qualifizierten Personals und dessen Ausstattung mit Ressourcen, die man gleich ob privater Investor oder öffentliche Hand auf diese Aufgabe ansetzen möchte. Oder anders gesagt: Je größer das Investment, desto schneller ist die Fusion verfügbar. Vorausgesetzt natürlich, man organisiert es gerade nicht so wie bei ITER.

Dieses monströse, mehr von wissenschaftlicher Neugier denn kommerziellen Interessen getriebene Vorhaben zeigt nur auf, wie man Innovationen ausbremst. Forscher aus 33 Ländern zusammenzutrommeln, damit diese unter äußerst komplexen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen eine schwer zu handhabende globale Zulieferkette aufbauen und kontrollieren, um ein seit dreißig Jahren überholtes Konzept umzusetzen, ist höflich gesagt nur wenig zielführend. Es braucht gierige Unternehmer und findige Techniker, die frei von äußeren Zwängen nicht etwa Perfektion anstreben. Sondern schlicht die ersten sein wollen, um ihre Belohnung als Pioniere abzuschöpfen. Natürlich sind längst nicht alle Fragen der Plasmaphysik geklärt, aber eben mehr als genug, um loszulegen. Natürlich werden die ersten, in den nächsten fünf Jahren entstehenden Fusionsreaktoren nicht jeden Prozess technisch in idealer Weise abbilden. Die Dampfmaschine entstand auch lange vor der Thermodynamik und die ersten Vertreter ihrer Art waren ineffiziente, laute und dreckige Ungetüme mit hohen Wartungsaufwänden. Aber sie erfüllten ihren Zweck.

Gleiches lässt sich für interne Verbrenner, für Elektromotoren, für Turbinen, ja überhaupt für alle technischen Systeme ausführen. Immer hinkt die Forschung dem Realisierbaren hinterher und immer erfolgt die Optimierung von Innovationen erst nach ihrem Markteintritt und nicht schon zuvor. Natürlich ist Wissenschaft wichtig für die Generierung von Wissen, aber im Bereich der Kernfusion wie auch in vielen anderen technischen Zusammenhängen dient sie vor allem der Ausbildung und der Schaffung fachlicher Kompetenz. Der sich dann ehrgeizige Wirtschaftslenker bedienen, um sie in Geld zu verwandeln.

Mehr als fünfzig Unternehmen arbeiten derzeit rund um den Planeten an Fusionsreaktoren. Die weitaus meisten davon sind Neugründungen der letzten fünfzehn Jahre. Etwa dreißig sitzen in den USA. Immerhin vier Firmen sind hier bei uns in Deutschland tätig, damit nehmen wir bereits den zweiten Platz im Ländervergleich ein, so man einen solchen aufstellen will. Die Situation in China ist aufgrund der dort üblichen staatlichen Projektsteuerung und zurückhaltender Informationspolitik derzeit nur schwer zu erfassen. Aufaddiert verfügen die bekannten Fusionsfirmen über mehr als 5.000 Mitarbeiter, darunter mehr als 1.000 Wissenschaftler und circa 2.500 Ingenieure. Ungefähr 6.000 weitere Arbeitsplätze hängen in der vorgelagerten Wertschöpfungskette von der Kernfusion ab.

Für Deutschland sind etwa 200 Personen zu nennen und grob geschätzt noch einmal einige hundert bei den Zulieferern. Weltweit sind in den letzten Jahren über acht Milliarden US-Dollar Kapital in diese Firmen geflossen, für die deutschen Protagonisten fielen dabei rund 400 Millionen ab. Dazu beigesteuert haben weit überwiegend private Investoren, nur etwa 500 Millionen US-Dollar stammen aus staatlichen Förderprogrammen.

Das ist, wohin die Politik schauen sollte, ja schauen muss. Innovationen werden von Menschen geschaffen und nicht von Strukturen oder Prozessen. Wenn also fünfzig Unternehmen mit tatsächlich fünfzig unterschiedlichen Konzepten Expertise im genannten Umfang mobilisieren und Risikokapitalgeber für ihre Sache begeistern können, ist allein dies schon ein Signal für eine unmittelbar bevorstehende Umwälzung.

Für die vielleicht die Magnettechnologie entscheidend sein könnte. Um Magnetfelder in einer für den Einschluss eines heißen Plasmas erforderlichen Stärke zu erzeugen, sind Supraleiter zu verwenden. Es kostet eine enorme Menge an Energie, deren metallische Vertreter mit flüssigem Helium auf die erforderliche Temperatur von 20 Kelvin zu kühlen. Hier nun die in den letzten zwei Jahrzehnten entdeckten keramischen Supraleiter mit weit höheren Sprungtemperaturen im Bereich von 100 Kelvin oder mehr einzusetzen, wäre ein erheblicher Effizienzsprung. Denn zur Kühlung genügt dann schon flüssiger Stickstoff. Das allein hebt bereits viele Stellarator- und Tokamak-Konzepte über die Netto-Energiegewinn-Schwelle.

Unter Berücksichtigung vieler anderer Innovationen aus Bereichen wie der Fertigungs- und Fügetechnik (Präzisions-Laserschweißen, additive Fertigung), der Vakuum- und Kryotechnik, der Hochleistungselektronik und -elektrotechnik, der Mikrowellen- und der Lasertechnik ergeben sich weitere Gründe für Optimismus. Wenn Unternehmen wie Commonwealth Fusion Systems (USA), Helion Energy (USA) oder General Fusion (Kanada) mit Meldungen aufwarten, nach denen sie Netto-Energiegewinn mit ihren Demonstratoren bereits in diesem oder im nächsten Jahr erreichen wollen, beruhen diese Versprechen auf einem validen technischen Fundament.

Was erstaunlicherweise in der deutschen Politik wahrgenommen wird. So hat sich die schwarzrote hessische Landesregierung ehrgeizige Ziele gesetzt. Dort ist das 2021 aus der TU Darmstadt ausgegründete, amerikanisch-deutsche Unternehmen Focused Energy mit derzeit 70 Mitarbeitern und einer Kapitaldecke von 110 Millionen US-Dollar im Bereich der laserinduzierten Trägheitsfusion aktiv. In ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2024 haben sich CDU und SPD daher darauf verständigt, Hessen mit Landesmitteln in Höhe von 20 Millionen Euro zu einem Leitstandort für die laserbasierte Kernfusion auszubauen. In einem im März 2025 von der Landesregierung, Forschungseinrichtungen und Unternehmen unterzeichnetem Memorandum ist die Absicht formuliert, am Standort Biblis einen Fusionsreaktor zu bauen.

Obwohl mit gleich drei Fusionsunternehmen gesegnet, ist man in Bayern etwas behäbiger unterwegs. Der im September 2023 veröffentlichte Masterplan Kernfusion definiert vor allem Strukturen und Prozesse. Zwar möchte der Freistaat 100 Millionen Euro bis 2028 investieren, diese Mittel aber sollen zunächst weit überwiegend in weitere Forschung fließen. Immerhin startet man parallel auch die Suche nach geeigneten Standorten für Fusionskraftwerke. Die von den allesamt in München ansässigen Firmen Marvel Fusion (gegründet 2019, 70 Mitarbeiter, 200 Millionen US-Dollar Kapital, laserinduzierte Trägheitsfusion), Gauss Fusion (2022, 20 MA, 20 Millionen US-Dollar, Stellarator) und Proxima Fusion (2023, 45 MA, 40 Millionen US-Dollar, Stellarator) errichtet werden könnten.

Das im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD zur Bildung einer neuen Bundesregierung formulierte Ziel, den ersten Fusionsreaktor der Welt in Deutschland zu bauen, scheint zwar angesichts des Vorsprungs der Amerikaner und wohl auch der Chinesen unerreichbar. Aber ein Fusionsreaktor kann hierzulande in den nächsten fünf bis zehn Jahren entstehen. So lange wird es schon brauchen, das komplizierte dreidimensionale Puzzle aus hoch- und spitzentechnologischen Systemen zusammenzufügen. Es nicht anzugehen, wäre fahrlässig angesichts des Potentials der Fusion als derzeit effizientester Form der Energieerzeugung. Mit keiner anderen Technologie kann mehr Wärme (beziehungsweise elektrische Energie) mit geringerem Aufwand (Flächen- und Materialbedarf) und geringerem Brennstoffeinsatz produziert werden.

Davon unabhängig sind Fusionsreaktoren außerdem höchst effektive Neutronenquellen mit einer Vielzahl von anderen Anwendungen. Man denke an die zerstörungsfreie Werkstoffprüfung oder an die Herstellung von Radionukliden für die Nuklearmedizin, die Raumfahrt, die Sensor- und die Lichttechnik. Auch können Fusionsreaktoren Kernbrennstoffe wie Uran 233 erbrüten oder gar durch Transmutation den langlebigen und toxischen Abfall aus herkömmlichen Kernkraftwerken vernichten.

Solche Fusion/Fission-Hybridkraftwerke stellen den dritten zu nennenden Königsweg zum Netto-Energiegewinn dar. Ein erster Demonstrator, errichtet und betrieben durch Shine Technologies in Wisconsin, wird seit 2024 zur Herstellung von Lutetium 177 für Krebstherapien verwendet. Hier ist die kommerzielle Nutzung der Kernfusion nicht mehr länger eine Vision, sondern bereits Realität. Schon hat Shine seine Fühler nach Europa ausgestreckt und plant, in die Niederlande zu expandieren.

Es wird also höchste Zeit, in Fusionskraftwerke zu investieren. Noch steht das sich rasch schließende Zeitfenster offen, in dem es deutschen Unternehmen gelingen kann, Schlüsselpositionen in neu entstehenden Wertschöpfungsketten mit hoher Strahlwirkung zu erringen. Die Nennung der Kernfusion im Koalitionsvertrag ist daher einer von wenigen Lichtblicken in einem ansonsten äußerst ambitionslosen Papier. Und das Geld aus den verfügbaren Sonderschulden unter dem Etikett „Klimaschutz“ ausgerechnet in diese Form der Kerntechnik zu stecken, würde außerdem die Ökologisten mächtig ärgern. Was ja schon einen Wert an sich darstellt.

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