Hunderttausende eingebürgerte Migranten: Der blinde Fleck der deutschen Wahlforschung

vor 5 Monaten

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Wohl über 600.000 Zuwanderer, die nun die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, dürfen bei der Bundestagswahl erstmals ihre Stimme abgeben. Unter ihnen sind viele Syrer und andere Neubürger aus islamischen Ländern.

Wenn am 23. Februar 2025 vorzeitig der neue Bundestag gewählt wird, werden weit über eine halbe Million Menschen wahlberechtigt sein, die 2021 noch keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, aber bis Ende 2023 eingebürgert wurden. Im vergangenen Jahr waren das gut 200.100 Personen, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es im laufenden Jahr weniger waren.

Eher im Gegenteil. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer im Land rückt die Möglichkeit näher, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Hinzu kommt vor allem, dass die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts am 27. Juni 2024 in Kraft trat. Ausländer können nun schon nach fünf, in Fällen „besonderer Integrationsleistung“ sogar nach nur drei Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.

2023 wurden mehr als 200.000 Ausländer eingebürgert.

Galt bis 2014 für Kinder mit doppelter Staatsbürgerschaft aufgrund ausländischer Eltern die Optionspflicht (sie mussten sich mit Vollendung des 21. Lebensjahres für eine Staatszugehörigkeit und einen Pass entscheiden), erhalten fortan in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren „seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt“ in Deutschland hat.

Die bisher verlangten Sprachnachweise entfallen, inzwischen reicht die „Fähigkeit zur mündlichen Verständigung“ aus, auch der Wissenstest über Deutschland. Und galt bisher, dass Einbürgerungswillige etwa ihren türkischen Pass abgeben müssen, um den deutschen zu erhalten, so ist auch das passe: Doppelstaatsbürgerschaften sind nicht mehr die Ausnahme, sondern Mehrstaatigkeit soll künftig grundsätzlich möglich sein – und in beiden Ländern darf der Betreffende an Wahlen teilnehmen.

Der Doppelpass ist keine Ausnahme mehr.

Es nimmt nicht wunder, dass die Verramschung der Staatsangehörigkeit zu einem Anstieg der Antragszahlen geführt hat. Bis Ende des Jahres rechnen viele Bundesländer mit einer Verdoppelung der Anträge – die allerdings für die Bundestagswahl 2025 keine Rolle mehr spielen angesichts der Bearbeitungszeiten, die gut und gern mal ein oder anderthalb Jahre in Anspruch nehmen.

Es ist vor allem die Herkunft der Neubürger, die das traditionelle Wählergefüge in Deutschland langfristig verändern dürfte. Menschen aus 157 unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten erhielten 2023 die deutsche Staatsbürgerschaft. Die fünf häufigsten vertretenen Staatsangehörigkeiten waren Syrien, die Türkei, Irak, Rumänien und Afghanistan.

Syrische Staatsangehörige stellten die größte Gruppe unter den Eingebürgerten. Sie machten allein mehr als ein Drittel aller Einbürgerungen aus. Ihre Zahl stieg im Vergleich zum Vorjahr noch mal um 56 Prozent. In den kommenden Jahren werden wohl noch Hunderttausende Syrer den deutschen Pass haben wollen.

Gemäß deutschem Recht, das den Erhalt der Einbürgerungsurkunde als Abschluss des Erwerbs der Staatsbürgerschaft betrachtet, sind diese Eingebürgerten selbstverständlich wahlberechtigt. Waren es bei der letzten Bundestagswahl noch 7,9 Millionen Eingebürgerte, die erstmals wahlberechtigt waren, dürften es weit über 8,5 Millionen sein – bei 65 Millionen insgesamt eine signifikante Wählergruppe, so heterogen sie auch sein mag.

Und hier beginnt das große Rätselraten. Die Zeiten, in denen man mehr oder weniger klare Präferenzen feststellen konnte, sind vorüber. Die traditionellen Wählerbindungen sind ohnehin kaum noch vorhanden, und die demografischen Veränderungen werden sich mittel- und langfristig auch bei Wahlen niederschlagen. Früher sagten Wahlforschern (Spät-)Aussiedlern nach, einen Hang zur Union zu haben, türkischen Neubürgern, die SPD zu bevorzugen.

Eine Muslimin in einer Berliner Wahllokal.

2021 sollen laut des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 59 Prozent der Erstwähler mit Migrationshintergrund vorzugsweise die SPD gewählt haben, auch die Grünen schnitten überdurchschnittlich gut ab. Hier spielte offenbar eine Rolle, dass diese beiden Parteien sich besonders für die schrankenlose Einwanderung starkgemacht haben.

Man muss sich nicht Bertolt Brechts Satz „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ zu eigen machen, um die Vermutung zuzulassen, dass Ausgeburten wie dem „Chancenaufenthaltsrecht“ durchaus eigennützige Überlegungen zugrunde gelegen haben könnten.

Die Turbo-Einbürgerung von Hunderttausenden Menschen, die nicht einmal Grundkenntnisse über die Aufnahmegesellschaft besitzen müssen, lässt viele Fragen offen: Wie viele der Neubürger werden wählen gehen? Und wenn ja: welche Parteien? Die Datenlage der Demoskopen ist da hauchdünn. Nicht einmal über das Wahlverhalten schon seit Generationen hier lebender Menschen „mit familiärer Migrationsgeschichte“ wissen die Wahlforscher viel zu sagen, und schon gar nicht über das der kulturell noch ganz anders gepolten Syrer, Iraker und Afghanen, die seit 2015 ins Land schneiten.

Viele der Millionen Asylbewerber seit 2015 sind heute eingebürgert – und damit wahlberechtigt.

In der Studie „Politische Einstellungen und Präferenzen von Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte in Deutschland“ heißt es lapidar, „dass es in naher Zukunft mehrere Hunderttausend syrienstämmige Deutsche geben wird. Über diese Gruppe wissen wir bisher nichts.“ Jedenfalls dürften Migranten aus islamisch geprägten Ländern mit den Kernanliegen grün-woker Ideologen vom Familienbild bis zu LGBTQ-Rechten eher wenig am Hut haben.

Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Ertan Toprak, kritisiert die neuen Einbürgerungsregeln. „Ich halte das Gesetz in dieser Form für falsch. Denn ich möchte nicht, dass Antisemiten, türkische Nationalisten und Islamisten den deutschen Pass bekommen. Wir haben schon genug Nazis in diesem Land. Dann müssen wir nicht noch weitere ins Land holen.“

Ali Ertan Toprak ist gegen das neue Staatsbürgerschaftsrecht, das auch Islamisten und Judenhasser zu Deutschen mache.

Auch der Politikwissenschaftler Andreas Wüst meint, eine klare Parteipräferenz unter den Flüchtlingen sei schwer festzustellen. Er hält es sogar für möglich, dass die AfD „auch von einem Teil eingebürgerter Syrer“ Unterstützung erfahren könnte.

Welche Parteien eingebürgerte Migranten bevorzugen, ist zum einen ausschlaggebend für die Sitzverteilung in Parlamenten, die Entscheidungen für die gesamte Bevölkerung treffen. Zum anderen ist es für Parteien von Bedeutung, um Wahlpotenziale in dieser Gruppe zu erkennen. Sie werden wahrscheinlich verstärkt um die wachsende Gruppe Wahlberechtigter mit Migrationshintergrund werben.

Zu den wenigen Dingen, die man weiß, gehört der sogenannte „immigrant participation gap“ bei der Wahlbeteiligung, der einen zentralen Befund der empirischen Wahlforschung markiert. Die liegt bei Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland meist 15 bis 20 Prozent niedriger als die von Wahlberechtigten ohne Migrationshintergrund.

Nur Desinteresse? Wie auch immer: Ob (und wenn: bei wem) die wohl weit mehr als 600.000 seit 2021 eingebürgerten Migranten bei der Bundestagswahl 2025 ihr Kreuzchen machen, ist völlig offen. Ein blinder Fleck in der deutschen Wahlforschung.

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